
Foto: Anne Schönharting
Als das Restaurant „Nobelhart & Schmutzig“ im Frühjahr 2015 eröffnete, begründete es eine ganze gastronomische Bewegung mit: Auf einmal war die konsequente Hinwendung zu Regionalität und Saisonalität hip. Viele Betriebe folgten dem Beispiel auf ihre Weise. Die Mitbegründung der Initiative „Die Gemeinschaft“, mit der ein Netzwerk zwischen Erzeuger*innen, Gastronomie und Gästen aufgebaut wurde, war der nächste Schritt. Im September 2019, als das große Symposium des Netzwerks auf Gut Kerkow stattfand, lag – fanden wir – das Gefühl in der Luft: Das kann jetzt alles richtig groß werden. Was dann folgte, ist hinlänglich bekannt.
Doch den eingeschlagenen nachhaltigen Weg ist das Nobelhart & Schmutzig trotz aller Widrigkeiten weitergegangen. Mehr noch: in den Monaten und Jahren ist im Restaurant enorm viel passiert – vor wie hinter den Kulissen. Ein neues, zugänglicheres Preismodell wurde eingeführt, ebenso ein neues Arbeitszeitmodell. Mit seinem Guide of Conduct leistet man einmal mehr Pionierarbeit in der Gastronomie – und das nachhaltige Engagement wurde einer aufwändigen Zertifizierung analysiert und ausgezeichnet. Wie managt man das alles in Zeiten wie diesen? Wir trafen Geschäftsführer und Wirt Billy Wagner zum Gespräch.
Billy, wie geht’s dem Nobelhart & Schmutzig heute, nach über zehn Jahren?
Uns geht es gut. Wir haben in den letzten Jahren viel verändert – unter anderem, um den Druck bei denjenigen rauszunehmen, die hier arbeiten. Wir haben die Arbeitszeiten so stark verbessert, dass sie wirklich 40 Stunden an vier Tagen arbeiten, vorher waren es 50 Stunden. Um das möglich zu machen, brauchst du mehr Leute und musst organisatorischer arbeiten, da alle nur vier Tage arbeiten, wir aber fünf Tage geöffnet haben. Wir haben heute wesentlich mehr Mitarbeiter*innen als noch vor ein paar Jahren.
Nämlich wie viele?
18, zwei davon in Teilzeit. Vorher waren wir 12 bis 13 Leute. So entsteht wesentlich mehr Lebensqualität: Du gehst in den freien Sonntag, bist nicht komplett durch und brauchst den Tag, um erstmal zu schlafen. Sicher: Es gibt auch Wochen, in denen jemand 43 oder 44 Stunden arbeiten muss. Aber das wird aufgeschrieben und ist dann quasi Guthaben. Im November und Dezember ist mehr zu tun, dafür dann weniger im Januar oder Februar. Oder jemand arbeitet doch mal fünf Tage, weil jemand anderes krank ist. Denn wenn man krank ist, dann ist man krank. Die Mitarbeitenden bleiben dann auch den zweiten Tag zu Hause. Ich will ja nicht, dass sie noch nicht wieder gesund zurückkommen und dann sind sie am Wochenende wieder krank. Es ist merklich spürbar, dass wir den Druck rausgenommen haben. Dafür ist der Druck jetzt bei mir aufgeladen.
Findest du das gut?
Nö, aber das ist halt so. Ich muss gucken, dass das Geld da ist, um alles zu bezahlen. Ich muss heute viel genauer rechnen, ich muss manchmal Liquidität stemmen, weil Einnahmen später kommen, als Ausgaben getätigt werden. Ich schaue mir die Tages- und Wochenumsätze an, die Gästezahlen, welche Kosten wir produzieren … das klappt schon alles, aber das Unternehmerische ist schon wesentlich komplizierter geworden. Viele denken ja immer, in einem Restaurant sei der Wareneinsatz das Größte. Der ist Hokuspokus. Die Miete ist auch Hokuspokus. Das Größte sind die Löhne, bei uns 800.000 Euro pro Jahr. Die machen den Braten fett. Gerade bei so personalintensiven Arbeiten – wir wollen ja alles selbst machen, das ist unsere DNA – muss ich gucken, wie ich das alles schultern kann. Wir haben gerade begonnen, 2026 zu planen. Können wir mit den 12 Prozent Verbesserung, die (durch Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen im Restaurant, Anm. d. Red.) eintreten sollen, von diesem Preis da (tippt auf die Speisekarte) runter gehen? Im gleichen Zuge steigt der Mindestlohn auf 15 Euro. Was gut ist. Aber alle anderen Löhne steigen auch, weil du den Abstand ja halten musst. Das sind für uns sicher 35.000 Euro Mehrkosten. Man muss sich die Stellschrauben anschauen, um zu begreifen, was kommt. Mir gibt das mehr Ruhe. Ich bin entspannt, wenn ich alles tue, um das Unternehmen positiv zu beeinflussen. Und so hält man dann auch unvorhergesehene Sachen aus.
Zum Beispiel?
Wir haben die Preise, die wir Anfang 2025 neu festgelegt haben, noch mal anpassen müssen. Grund waren die Sozialabgaben, die Zahlen kamen erst im Januar. Sie liegen insgesamt acht Prozent höher als im Jahr zuvor. Die Dame, die mir bei der Buchhaltung hilft, hat mir gesagt, sie mache das seit 30 Jahren, aber so explodiert seien die Sozialabgaben noch nie. Also mussten wir die Preise ab März nochmal anheben, sonst hätte unsere Planung nicht gereicht.

Fotos: Marko Seifert
Grundsätzlich aber habt ihr die Preise ja gesenkt oder genauer: Ihr habt ein anderes Preismodell eingeführt. Erklär doch mal bitte.
Wir haben eingeführt, was Fluggesellschaften „priority boarding“ nennen: Wenn du Geld bezahlen willst, kannst du machen, was du willst. Du kannst zu uns kommen wann du willst, der Platz gehört dir den ganzen Abend, du bekommst acht Gänge – die große Hafenrundfahrt – und die kostet unter der Woche 185 Euro, 200 am Freitag und 205 am Samstag. Du hast aber auch die Möglichkeit, dass du entweder sehr früh um 18 Uhr kommst und eventuell, vor allem am Wochenende, deinen Platz um 20:15 Uhr aufgeben musst. Oder du kommst sehr spät. Und dann nimmst du die kleine Hafenrundfahrt für 120 Euro (sechs Gänge, Dienstag bis Donnerstag, Stand Juni 2025, Anm. d. Red.). So habe ich einen günstigen Einstiegspreis und an Tagen mit mehr Auslastung machen wir es teurer. An einem Valentinstag zum Beispiel kostet es so viel wie am Samstag.
So erwirtschafte ich insgesamt das, was mir unter der Woche durch die geringere Belegung und den geringeren Pro-Kopf-Verzehr fehlt. Bei 50 Gästen sind wir voll belegt, und weil wir immer zehn, fünfzehn Gäste haben, die die „große Hafenrundfahrt“ buchen, passt es. Und es ist eigentlich super, weil es demokratischer ist. Vor dem Wechsel bist du hier zu zweit immer mit 800 Euro rausgegangen. Oder mit 900. Oder mit 1.000. Das kann und will sich aber nicht jeder leisten. Jetzt haben wir auch Gäste, die mit 240 Euro rausgehen – wie das Paar gestern, das nur Wasser getrunken hat. Du hast jetzt die Chance, zu einem günstigen Einstiegspreis bei uns essen zu gehen. Die Leute sind ja insgesamt schon vorsichtiger geworden. Die kleineren Menüs sind unser Weg, damit umzugehen. Dazu bieten wir zwei Gänge on top an, die die Gäste sich dazu bestellen können, wenn sie möchten. Und vielleicht noch einen Wein.
Upselling.
Das Wort klingt immer ein bisschen negativ, aber: ja. Wir sagen es so: „Wir haben da noch was extra für Sie. Ihr braucht das nicht zu nehmen, aber vielleicht wollt ihr es ja.“ Der Sauerampfer ist ein Gericht aus 2015, der Spargelgang aus 2018 – für viele Gäste in gewisser Weise etwas Neues. Und es lohnt sich. Das sind Gänge, die besonders viel Spaß machen (können wir bestätigen, Anm. d. Red.).

Extragang: Grüner Spargel mit Petersilie. Fotos: Marko Seifert
Hast du eine Veränderung im Konsumverhalten der Gäste feststellen können?
Es wird weniger getrunken. Wir versuchen das mit besser aufzufangen. Wir schenken Weine aus, mit denen wir auf einen guten Deckungsbeitrag kommen. Ich schaue immer: Was verdiene ich denn heute an der Getränkebegleitung? Dinge, die wir viel verkaufen, sollen einen guten Deckungsbeitrag haben, damit wir andere gewisse Dinge im Restaurant charmant bepreist belassen können. Aber weil die Lohnkosten eben so enorm gestiegen sind, musst du genau schauen, wie du kalkulierst. Deckungsbeitragsrechnung ist für uns entscheidend, um es besser zu machen.
Viele Gastronom*innen berichten, dass das Gästeverhalten, genauer: das Gästeaufkommen, viel diffuser geworden ist. Traditionelle starke Tage verschwinden, dafür kommt dann ein spontan hoher Andrang, dann ist es wieder ruhig.
Es ist sehr diffus und ganz schön schwierig. Das letzte Jahr haben wir unser Geld im Prinzip mit dem November und im Dezember verdient. Das war in den Jahren zuvor nicht so, da haben wir gleichmäßiger verdient. 2024 kommen 80 Prozent des positiven Betriebsergebnisses aus den letzten beiden Monaten. Das habe ich nicht kommen sehen. Die Leute haben noch mal richtig Geld ausgegeben, die guten Flaschen bestellt, während es zu Anfang des vergangenen Jahres alles sehr behäbig war. Auch dieses Jahr wieder.
Du machst in deinen Videobotschaften ja transparent, wenn ihr zum Beispiel die Preise anhebt.
Ich möchte, dass die Leute verstehen, warum wir das tun. Klar: Ich will Geld verdienen und davon leben können. Gleichzeitig möchte man einen fairen Deal anbieten. Es ist wichtig, den Gästen zu zeigen, wofür sie hier ihr Geld ausgeben. Möchte ich es beim Dreisterner ausgeben, bei dem das Menü 340 Euro kostet und die Leute müssen 70, 80 Stunden arbeiten, oder bei uns? Sicher: Was auf dem Teller landet, ist total wichtig. Das Essen muss gut sein. Aber es ist auch wichtig, wie es erzeugt wird. Inklusive Löhnen, Arbeitszeiten, und wie läuft das mit den Produzent*innen? Deswegen machen wir das auf unserer Homepage so präsent – als Erleichterung für eine Kaufentscheidung und damit es in die Bewertung eines Abends einbezogen wird. Es geht nicht nur darum, wie es schmeck. Alles drumherum gehört dazu.
Ihr habt vor rund zwei Jahren mit einem „Guide of Conduct“ eure Werte verschriftlicht – unter anderem, wie ihr im Team miteinander umgehen wollt. Was hat das verändert?
Der „Guide of Conduct“ ist wie eine Therapie. Man befasst sich mit sich selbst, schaut dorthin, wo es unbequem ist und lernt einiges über sich. Was kann ich anpassen, was muss ich anpassen? Du bist den Menschen viel mehr zugewandt, die bei dir arbeiten, dadurch ändert sich das Arbeitsklima positiv. Von Mitarbeitenden, die das Nobelhart & Schmutzig seitdem verlassen haben, höre ich es ständig: Anderswo ist es viel rougher. Also, du musst auch hier viel aushalten – aber wir gehen in den Konflikt. Er hat nach innen viel bewirkt, dass wir uns mit den Dingen beschäftigen. Und dass wir kommunizieren. In der Schule über Gefühle reden? Gab es nicht, da wurde alles runtergeschluckt. Manche hatten vielleicht Glück und Eltern oder Lehrer, die das mit ihnen gemacht haben, die meisten nicht. Es ist ein großes Problem, dass wir alle so erzogen worden sind. Wir bemühen uns, dass es hier besser läuft, aber es ist ganz schön anstrengend, wenn man erst so spät im Leben damit anfängt.
Was hast du dabei über dich gelernt?
Dass ich das alles auch nicht kann (lacht). Es ist eine Operation am offenen Herzen. Wenn mein Opa und meine Oma sich gestritten haben, haben die fünf Tage nicht miteinander gesprochen. Wie willst du da die Basis für Kommunikation schaffen? Dadurch crashen übrigens auch die Generationen so stark. Es wird heute einfach anders kommuniziert.
Ihr habt noch eine andere Pionierleistung hinter euch gebracht, nämlich das Audit der Sustainable Restaurant Association (SRA). Ihr habt dabei als erstes deutsches Restaurant auf Anhieb die höchste Drei-Sterne-Auszeichnung erhalten. Im Rahmen der Initiative „Food Made Good“ der SRA wurde euer Restaurant in drei Bereichen analysiert: „Society“, „Sourcing“ und „Environment“.
Früher war die Qualität eines Essens nur über das bestimmt, was auf dem Teller landet. Heute gibt es noch weitere Punkte, ob etwas gut ist. Nämlich es erzeugt wurde. Das haben wir mit der SRA-Zertifizierung gut erreicht. Weil man den Menschen, die zu uns kommen, fair und nachvollziehbar erklärt, wieso wir wirklich nachhaltig sind und wie wir uns immer wieder verbessern wollen. Was ich toll finde: Du bekommst (bei der Zertifizierung) nicht nur Punkte, sondern auch Vorschläge, was du noch besser machen kannst. Wir haben 84 von 100 Punkten erhalten. Für mich, der aus der Weinwelt mit ihren Parker-Punkten kommt, klang das erst mal nach nicht so viel. Aber eine Bewertung von um die 90 oder von gar 100 ist gar nicht möglich. Weil man davon ausgeht, dass man eben noch nicht weiß, wie man es eigentlich noch besser machen können. So gesehen sind 84 Punkte extrem hoch. Im Endeffekt ist es sehr gut, dass wir dieses Audit gemacht haben. Wir haben jetzt schon alles, womit sich andere erst noch befassen müssen. So können wir uns auf andere Dinge konzentrieren. Und uns vielleicht auch mal eine gewisse Leichtfüßigkeit gönnen.
Vielen Dank und alles Gute, Billy.