Gastro-Check: Essen-Rüttenscheid und Essen-Süd

von Jan-Peter Wulf
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Fotos: Redaktion

Essen ist mit knapp 600.000 Einwohnern die neuntgrößte Stadt Deutschlands. Doch was geht hier eigentlich gastronomisch? Antwort: Im Süden der Stadt hat sich eine kleine, aber dynamische Gastroszene entwickelt – und zugleich drängen die großen Ketten mitten hinein. Ein Stadtteilbericht. 

Ein Samstagvormittag im Frühling 2018, Essen-Rüttenscheid. Wir stehen auf der Rüttenscheider Straße, der Ausgehmeile Essens. Man stelle sich die „Rü“, wie sie hier alle nennen, vor wie ein Straßendorf: Rund zwei Kilometer lang, 100 gastronomische Konzepte sind wie an einer Perlenkette aufgereiht (inklusive der Lagen in den angrenzenden Seitenstraßen). Mittendrin liegt die „Zweibar“: Hier trifft und plaudert, isst und trinkt es sich gut zu jeder Tageszeit.

Mit „Zweibar“-Betreiber Phil Hinze treffen wir uns auf einen Kaffee und ein Croissant. Hinze ist einer der Gastronomen, die die Entwicklung vor Ort angekurbelt, wenn nicht begründet haben. „Für mich begann das alles eigentlich, als sich Leute wie Claudia Stoff, Patrick Sokoll oder Gabriel Gedenk in unserem ersten Laden (dem Ex-„Soul“ in der angrenzenden Kahrstraße, Anm. d. Red.) trafen“, erinnert Hinze sich.

Das war 2004. Binnen weniger Wochen eröffneten seine Gäste dann ihre eigenen Gastronomien: Patrick Sokoll eröffnete die immer noch existierende „Goldbar“ am Isenbergplatz, Claudia Stoff das „Stoffwechsel“ und Gabriel Gedenk übernahm die Fläche des „Soul“ und machte daraus das „Banditen Wie Wir“.

Keine Konkurrenz, sondern Basis für eine Infrastruktur – auf einmal war hier so etwas wie eine Szene vorhanden. Auch eröffneten Café-Konzepte wie das „zucca“, das „miamamia“ (das hat gleich zwei Outlets auf der Straße, ein drittes in Düsseldorf wurde wieder geschlossen) und das „Sweet Coffee Pirates“, die Tapasbar „Bliss“, das All-in-One „planB“, das Restaurant „Tatort“, die Bar „Fcuk Yoga“ und später das Bar-Restaurant Balthazar, das heute „Gin & Jagger“ heißt – sie alle eröffneten hier.

Jüngster Neuzugang ist die Ramen-Bar „Genki“ in der angrenzenden Dorotheenstraße – wer authentische japanische Nudeln will, muss nun nicht mehr nach Düsseldorf fahren. Phil Hinze: „Gastronomische Trends kommen hier immer etwas später an, aber gleichzeitig sind die Leute hier sehr treu – und probierwillig. Ich weiß von unseren Gästen auch, dass sie sich noch ein paar mehr Alternativen zum Weggehen wünschen. Es könnten ruhig noch ein paar mehr Läden dieser Art aufmachen. Nicht noch mehr Ketten.“

Die Systeme kommen

Damit ist das Stichwort gefallen: Denn seit zwei, drei Jahren drängen die großen Systeme verstärkt in das individualgastronomisch geprägte Umfeld hinein. 2016 wurden für die Eröffnung eines Outlets des Asia-Systems Coa zwei Restaurantflächen, in denen sich das „Cabalou“ und das „Rubacuori“ befunden hatten, zusammengelegt. Aus zwei mach eins hieß es 2017 auch im Falle der Bar „Eins 43“ und der daneben liegenden Kult-Kneipendisco „Ego Bar“: Hier befindet sich nun das „Sausalitos“.

Gleich nebenan zog das zweite Essener „Vapiano“ in eine ehemalige „Thalia“-Buchhandlung. Auf der anderen Straßenseite eröffnete ein „Dean & David“ und die Gastronomie des Hotel „Lorenz“, auch ein Klassiker der Straße, wich einer „L’Osteria“. Schon 2013 wurden Einzelhandelsflächen am Rüttenscheider Stern zum „Café Extrablatt“ vereint und zurzeit entsteht das „Burgerheart“, ein Konzept der „Enchilada“-Gruppe (Nachtrag: mittlerweile eröffnet). Mehrere Tausend Quadratmeter Systemgastronomiefläche sind so binnen kurzer Zeit entstanden.

Die Interessengemeinschaft sieht’s gelassen

Systemwucher im Szeneviertel? Rolf Krane winkt ab: „Wir sprechen hier von zurzeit vielleicht sechs oder sieben Systemgastronomien bei insgesamt 179 gastronomischen Konzepten im Stadtteil. So viel Individualgastronomie muss man anderswo erst einmal suchen.“

Krane steht der „Interessengemeinschaft Rüttenscheid“ (IGR, www.ruettenscheid.de) vor. Eine eigene App, eine starke Facebook-Community und viele Events – Highlight ist das alljährliche „Rü-Fest“ – zählen zu den Aktivitäten der Vereinigung. „Wir sehen die Entwicklung sehr gelassen“, so Krane, „schon weil die Flächen, die Systeme brauchen, hier nicht beliebig vorhanden sind.“

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Asia-System: Coa Essen

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Asia-Individualist: Luck in a Cup

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Stecker gezogen: Ex-Das Schön

Hinzu kommt: Nicht jeder Große tut sich hier leicht. So manches Dickschiff, hört man in Hintergrundgesprächen, bleibt hinter seinen Umsatzerwartungen deutlich zurück.

Auf dem Bauch landete das wohl spektakulärste Essener Opening 2017, „Das Schön“ im ehemaligen „Eigelstein“, ein Projekt der BJW Gastronomie GmbH, die unter anderem das System „Three Sixty“ in Bochum, Oberhausen und Bielefeld betreibt: Nach nur rund acht Monaten war Schicht im Schacht.

Klasse statt Masse

Vielfalt und Qualität, Klasse statt Masse – das sind die Ziele, die man für Rüttenscheid in punkto Gastronomie, aber auch Einzelhandel verfolge, erklärt Rolf Krane.

Und das auch vor dem Hintergrund, dass die Innenstadt der selbst ernannten „Einkaufsstadt“ Essen zusehends verwaist – in der Shoppingmeile Kettwiger Straße schließen alteingesessene Ladengeschäfte, abends ist es hier ziemlich still. Krane: „Rüttenscheid ist heute die eigentliche Altstadt.“

Und wenn wir im Bild bleiben wollen: Eine Altstadt, eine City, sollte viele Bedürfnisse bedienen, auch gastronomisch.

Tim Koch, Essener und mit dem nationalen Pommes-und-Currywurst-Konzept Bobby&Fritz ebenfalls auf der Rüttenscheider Straße ansässig, findet gar, dass noch mehr Systeme den Standort nicht gefährden oder ihm seine Seele nehmen, sondern gut tun würden: „Dann kommen noch mehr Leute aus dem Umland hierher. Das bedeutet mehr Abwechslung und mehr Frequenz – davon profitieren auch die Individualgastronomen vor Ort.“

Gastronomien im Essener Süden: 7 ausgewählte Konzepte 

1. Spiesser

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Eigentlich war das Konzept (Geschäftsführer: Marco Vogt) als frisches Salate- und Spieße-Angebot für Shoppingcenterlagen ausgelegt worden. Dann ergab sich die Möglichkeit, auf der „Rü“ eine Fläche anzumieten und kurz darauf den Laden direkt rechts nebenan – der hat sogar einen idyllischen Garten, der nun als Außenbereich dient. Das Profil wurde um ausgesuchte Weine, die hier unkompliziert getrunken werden können, ergänzt. Ein besonderes Angebot dabei ist „#shareabottle“, mit dem sich Gäste via Facebook zum gemeinsamen Genuss eines besonderen Tropfens verabreden können. Im Speisenbereich bietet man neben Fleisch-, Fisch- und Gemüsespießen nun auch moderne Bistroküche (Glasnudelsalat mit gebratenem Fisch, Tagliatelle mit Merguez, Penne mit Kalbsongletwürfeln) an. Und das je nach Angebot und Saison: Es wird tagesaktuell und frisch eingekauft.
Rüttenscheider Straße 214 
www.facebook.com/sospiessich

2. Baba Green

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In die Lobby des ehemaligen Hotels „Arosa“ ist 2017 ein Falafelladen eingezogen. Was erst einmal unspannend klingt, entpuppt sich als eines der trendigsten Foodkonzepte dieser Art in Deutschland: „Baba Green“ überzeugt mit seinem modernen Store- und Kommunikationsdesign und seinem Angebot. Der Falafel ist crisp und mit frischem, leckerem Gemüse von Babyspinat bis Sumakzwiebeln gespickt, die Saucen – klassisch, fruchtig-pikant, rauchig, light mit Chiasamen – sind Eigenproduktionen. Der Gast wählt dazu Getränke wie hausgemachte Limo, Ayran (Tipp: Spezial mit Erdbeer oder Vanille) oder Weinschorle. Zuerst eröffnete das in Essen gegründete Unternehmen (Geschäftsführer: Ozan Baran) in Düsseldorf, Nummer zwei dann in der Heimat.
Rüttenscheider Straße 149-151 
www.babagreen.de

3. Tapas Factory

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Oben befinden sich jetzt Eigentumswohnungen und in der Souterrainfläche der ehemaligen Staatsanwaltschaft des Essener Landgerichts in der Zweigertstraße werden seit Mitte 2017 spanische Gerichte serviert: Die „Tapas Factory“ von Moussa Lmcadem, die es schon zweimal in Dortmund gibt, sorgt jetzt auch in Rüttenscheid für spanisches Feeling, fünf Laufminuten von der Rüttenscheider Straße entfernt. Lange Kulissentische, üppige Kronleuchter, Vintagelampen und landestypische Wandmalereien zeichnen die rustikal, modern und mediterran designte Location aus. Die Tapasfabrik bietet rund 140 Gästen Platz, hinzu kommt eine kleine, geschützte Außenfläche. Die Tapas befinden sich im Preisband zwischen drei (Aioli) und zwölf (gegrilltes Rinderfilet) Euro, dazu kommen Paellas, Salate und Mittagsgerichte. Nicht nur die Weine, sondern auch die Biere kommen aus Spanien.
Zweigertstraße 50 
www.tapasfactory.de/essen

4. KohleCraftWerk

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Der bei Craft-Beer-Konzepten so beliebte Industrial-Style wirkt schnell aufgesetzt. Hier, in der Ex-Malocherstadt Essen, passt er mal wirklich gut: Alte Grubenlampen, massive Stahl-Holz-Regalbauten, frei liegende Lüftung und als Schmuckstück im Eingangsbereich ein Triumph-Motorrad aus den späten Siebzigern zeichnen das Interieur der Location aus. Auf der Getränkekarte stehen diverse Bieretypen vom trendigen IPA über elegante Trappistenbiere bis zum „Pilsken“, Helles und Weizen gibt es hier als „KCW“-Eigenmarke. Gefuttert werden vornehmlich Burger – klassisch, Cheeseburger, Chicken, Surf&Turf, vegetarisch – und gegrillt werden sie im Mibrasa-Ofen auf echter Holzkohle. Der Name ist Programm. Betreiber ist Franco Giannetti, der nebenan das edle Fleischrestaurant „Bistecca“ sowie das „Vincent & Paul“ im Museum Folkwang, die „Officina“ in Bredeney sowie das Luck In A Cup (siehe oben) am anderen Ende der „Rü“ betreibt.
Rüttenscheider Straße 14
www.kohlecraftwerk.de

5. Doctor T Burger-Labs

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Hinter dem 2016 an den Start gegangenen Burgerkonzept steht der promovierte Markscheidewesen-Ingenieur Tobias Papst. Sein Urahn, ein gewisser Doctor T, soll anno 1894 in Boston ein Labor gegründet haben, um den perfekten Hamburger zu erfinden. Sein Nachfahre forscht im laufenden Betrieb: Highlight des Restaurants ist der „Apnoe Deluxe“, im Sous-Vide-Verfahren bei konstanten 54 Grad gegartes 220-Gramm-Beef wird über einer Flamme kurz geröstet und dann mit Trüffelmayonnaise, Käsefondue, Bacon-Candy und sautierten Champignons kredenzt. Immer dienstags kommen sogar alle weiteren Burger ins Sous-Vide-Bad. Papst hat kürzlich eine Traditions-Eisdiele im Südviertel übernommen und betreibt sie seit diesem Frühjahr unter dem Namen „Lønni“ weiter – allerdings ohne Experimente à la Stickstoff-Eis und Co.
Huyssenallee 99 
www.doctort.de

6. Süsskind & Sauermann

Nur 22 Sitzplätze hat das minimalistisch-retrograd designte Restaurant, das Norman Brázda und Phil Hinze („Zweibar“) im an Rüttenscheid angrenzenden Südviertel seit 2016 betreiben. Zuvor befand sich hier der Kultimbiss „Römer Grill“. Hinzes ursprüngliche Idee, ihn als „Projekt Imbissstube“ weiterzubetreiben, wich alsbald einem richtigen Restaurantkonzept. Die Küche des „Süsskind & Sauermann“ ist saisonal ausgerichtet, gekocht wird frisch und das Sortiment hält man überschaubar: Über das aktuelle informiert eine große Tafel neben dem Tresen, die Gäste können zwischen Drei- und Fünfgangmenüs wählen, die Speisen aber auch einzeln bestellen. Die Weinkarte wurde kürzlich angepasst: Von ehemals 30 Positionen ging es runter auf rund zehn – dafür bietet man jetzt VDP-Weine wie gereifte Lagenrieslinge an, die dank Korkgeld zu einem gastfreundlichen Preis dargestellt und verkauft werden können.
Witteringstraße 77 
www.suesskindundsauermann.de

7. The Oak

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Patrick Winter betreibt mit dem „Tofino Burgerbude“ in der Witteringstraße einen der beliebtesten Burgerläden in der mit Burgerläden reichlich gesegneten Ruhrstadt. Sein neues Projekt hat ganz frisch eröffnet, heißt „The Oak“ und befindet sich in den Räumen der ehemaligen „Viertelliebe“ in der Hildegardstraße/Ecke Rellinghauser Straße. In urbanem, modernem Flair – weiß gekachelte Wände, Blumenampeln, grüner Mosaikfußboden, helles Holz, filigranes Metallmobiliar – setzt Winter hier nicht auf Pattys und Buns, sondern will das Thema Streetfood mit diversen Speisen, unter anderem mexikanischen Tacos und Burritos, in einer stationären Gastronomie spielen. Dazu gibt es zehn verschiedene Biere vom Hahn. 
Hildegardstraße 1 
www.facebook.com/theoakessen

Dieser Beitrag erschien zuerst in fizzz 6/2018.

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