Psychologe Claus Lampert: „Wie froh kann man derzeit als Gast sein, dass jemand da ist, der einen bewirtet“

von Jan-Peter Wulf
clauslampert 690x460 - personal, interviews-portraits, management, gastronomie Psychologe Claus Lampert: „Wie froh kann man derzeit als Gast sein, dass jemand da ist, der einen bewirtet“

Claus Lampert. Foto: privat

Ein paar Vorbemerkungen: Viele Menschen berichten uns zurzeit, dass sie wieder gerne zum Essen und Trinken ausgehen. Allein: Fast alle bevorzugen es, draußen zu sitzen. Und fast alle sagen, dass sie nicht wissen, ob sie, wenn es (sehr bald) kühler wird, wirklich drinnen sitzen wollen. Viele fragen sich: Is(s)t man dann wirklich sicher?

Corona hat binnen Wochen und Monaten alles verändert, auch das Verhalten vieler Menschen und wie sie sich fühlen. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Wer Gastronomie betreibt, muss sich damit auseinandersetzen. Verlängerte Außenzeiten – ja, vielleicht. Heizpilze? Wir halten das persönlich für keine gute Idee. Vielmehr halten wir es für sinnvoll, sich mit diesem diffusen grundsätzlichen Gefühl und Unbehagen auseinander zu setzen, das da draußen zu herrschen scheint. Wie geht man damit um? Wissen wir auch noch nicht.

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Deswegen haben wir uns an Claus Lampert gewendet. Der Psychologe und Psychotherapeut mit Praxis in Frankfurt hat nämlich ein Herz für die Gastronomie. Mit Hotel- und Barpsychologie – Psychologie für die Gastronomie hat er ein Fachbuch geschrieben, das sich diesem nischigen, aber für die Branche umso wichtigeren Thema widmet. Aus Perspektive des wissenschaftlichen Experten, nicht aus Berater- oder Praktikerperspektive. Mehr dazu im Interview, das wir damals mit ihm geführt haben.

Als wir ihn nun wieder kontaktierten, ließ er uns wissen, dass er sich schon seit Monaten darüber Gedanken mache, ob und wie er die Gastronomen unterstützen könne. Er sei jedoch zum Ergebnis gekommen, dass die Berufsgruppe dringender als psychologische Ratschläge wirtschaftliche Unterstützung benötige. Auf unsere Anfrage hin ist er jedoch bereit, einige seiner Gedanken zum Thema zu formulieren und zu teilen. Liebe Leser*innen, verstehen Sie das folgende Interview daher bitte mehr als offene Ideenformulierung denn als Ratgeber. Das halten wir in einer beispiellosen Situation wie dieser auch für angemessen. 

Herr Lampert, wir befinden uns in einer pandemischen Situation, die wir alle noch nie erlebt haben. Gehe ich recht in der Annahme, dass Menschen dann, bewusst oder unbewusst, auf ihre basalen Bedürfnisse – Schutz, Sicherheit – zurückgeworfen sind?

Wenn Menschen in Bedrängnis geraten, dann greifen Schutz- und Abwehrmechanismen. Sie sollen das „Ich“ vor Überflutung starker Affekte und Emotionen schützen.

Was tun sie dann?

Zu den Abwehrmechanismen zählt zum Beispiel die sogenannte Regression. Sie ist ein Rückgriff auf ein lebensgeschichtlich früheres Funktionsniveau. Man sucht dann vielleicht Halt und Bindung bei sicherheitsgebenden Personen aus früheren Zeiten und wird unter Umständen regelrecht jünger in seinen Verhaltens- und Erlebensweisen. Dies ist eine unbewusste Abwehr, um sich vor Angst und dem Zerbrechen des Ichs zu schützen. Auch der Mechanismus der „Spaltung“ kann eine Form der Abwehr sein. Dabei wird die Welt in schwarz/weiß, in gut/schlecht, Freund/Feind regelrecht aufgespalten und eingeteilt. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich, ist eine typische Ausdrucksform von Spaltung. Die eher realitätsnahen Mittelnuancen fallen hierbei im Denken, Bewerten und Wahrnehmen regelrecht aus. Dies ist ein Überlastungsschutz der Psyche und somit eine kognitive – gedankliche – Erleichterung des Menschen bei Überforderung. Man kennt dies auch als Tunnelblick, wo nur noch einseitig wahrgenommen und erlebt wird. Alles andere ist dann ausgeblendet.

Gibt es weitere Abwehrformen im Krisenmodus?

Ja, eine weitere ist die Verleugnung der Realität. Was ich nicht aushalten kann, das sehe ich auch nicht. Dies findet unbewusst statt, obwohl es für die Umgebung deutlich erkennbar sein kann. Damit blendet der Betreffende das Problem aus. Diesen Mechanismus kennt man aus der Medizin. Wenn ein Patient eine schwerwiegende Diagnose erhält, ist es möglich, dass er diese erst einmal verleugnet: Das kann gar nicht sein. Es ist eine Reaktion auf eine maßlose Überforderung der Psyche und bedarf dann einiger Zeit, um die Realität anerkennen zu können.

Ich möchte an dieser Stelle auch kurz auf das Thema kulturelle Verdrängung eingehen. In der Krise besteht die Gefahr des Verlustes an Kultur, die letztlich eine Errungenschaft der Gesellschaft und Umwandlungsleistung basaler Triebe ist. Wir sehen deren Umkehrung in Kriegsgebieten, wo es zum Kulturverlust und zu Verhaltensweisen infolge primärer sexueller und aggressiver Triebdurchbrüche kommt. Eine Abwehrform einer Gesellschaft oder einzelner Gruppen, deren Niveau auch diagnostisch für den Zustand einer Belastung herangezogen werden kann. Insofern würde ich Ihre Frage im weiteren Sinne mit „ja“ beantworten.

Diesen Kulturverlust haben wir ja gerade am Berliner Reichstag erleben müssen. Zurück zur Gastronomie: Wir haben uns vor Jahren über das Phänomen „voller Laden“ unterhalten. Ein gut gefülltes Restaurant signalisierte den Menschen bislang: Hier bin ich als Gast gut aufgehoben. Menschen zieht es zu Menschen, sagt man ja. Ist das nun völlig auf den Kopf gestellt? 


Man könnte umgekehrt auch sagen: Was andere Menschen meiden, da gehe ich auch nicht hin. Was Menschen fürchten, steckt weitere an. Menschliches Verhalten wird manchmal erst im Nachhinein verstehbar. Am besten, man steht außen vor dem, was man beobachten will. Da ich derzeit jedoch genauso betroffen bin wie alle anderen auf diesem Globus, bin ich kein freier Beobachter. Ich kann bestenfalls versuchen, von einer Art Metaposition heraus die Situation zu erfassen.

Aus dem Weltall betrachtet sieht es wahrscheinlich aus wie immer. Was ist aus dieser Perspektive eine Gaststätte? Was eine Bar? Was bedeutet individuelles Schicksal und Leiden? Alles kreucht und fleucht unbemerkt weiter vom Rest des Universums aus. Was wir als bedeutend wahrnehmen, wird durch den Fokus unserer Aufmerksamkeit, unserer Werte und Bewertungen bestimmt. Seit März kenne ich den Ausdruck Corona. Ich sehe Bilder im TV von Kliniken und Menschen, die ich nicht kenne. Die Worte anderer aus den Medien lenken meine Aufmerksamkeit und beeinflussen seitdem meine Gedanken. Es ist mir unmöglich, mich dem zu entziehen. Alle aus meiner Familie, aus meinem Freundes-, Kollegen- und Bekanntenkreis verhalten sich anders als sonst. Das wirkt natürlich auch auf mich und zwar gewaltig. Ich empfinde mich dabei wie ein Sandkorn in der Wüste, welches versucht einem Sandsturm zu trotzen.

Mein Leben ist, um auf Ihre Frage einzugehen, völlig auf den Kopf gestellt.

Vielleicht als ein kleiner Trost: In der Regel lernt unser Gehirn, ein auf den Kopf gestelltes Bild irgendwann, trotz aller Verwirrung, wieder realistisches Bild von der Welt zu sehen. Dies ist meine Hoffnung in der heutigen Lage.

Versuchen wir mal, mit diesem Kopfstand zu arbeiten. Viele Menschen sind aktuell unsicher, ob sie in ein Restaurant hinein gehen sollen. Wie lässt sich diese Unsicherheit erklären?

Erstens: Kollektiv erlernte Angst in den letzten Monaten. Zweitens: Die in der Phantasie vorweggenommene und befürchtete Strafe, sowohl gesundheitlich, sozial und juristisch. Und drittens besteht auf der anderen Seite bei einigen ein mangelndes Vertrauen in wichtige Personen und Institutionen. Dieses entsteht manchmal aus der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung. So können frühe unsichere Bindungserfahrungen sich unbewusst auf Personen des öffentlichen Lebens oder Institutionen übertragen und verschieben. Dies ist dem Betreffenden erstmal nicht bewusst.

Hier bedarf es der genauen Analyse jedes Einzelnen und seinen Willen, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen und seiner emotionalen Erfahrungen zu erinnern. Übertragung und Verschiebung findet im Alltag ständig statt. Wie sollte man sich sonst das Phänomen von Liebe und Hass erklären? Wie erklären, dass man einen Menschen genauso lieben kann, wie einen anderen vorher? Manchmal geschieht dies innerhalb von Minuten an einer Bar, was jeder sicher schon beobachten konnte oder von sich selbst kennt.

Wie können Gastronom*innen mit dieser Unsicherheit umgehen? Wie können sie helfen, diese womöglich zu überwinden?

Ich kann nur Sicherheit vermitteln, wenn ich glaubhaft bin und selbst keine Angst habe. Aber wer ist schon in dieser Lage derzeit? Ich befürchte die Wenigsten. Jeder Gastronom hat mehr oder weniger Existenzangst, ist angewiesen auf die Regelvorgaben der Behörden, ist in wirtschaftlichen Nöten, musste Angstelle entlassen oder in Kurzarbeit schicken. Wo soll da Sicherheit sein?

Das klingt leider plausibel.

Ich glaube, wir müssen lernen und uns zugestehen, dass der Weg über die Anerkennung unserer Ängste und Unsicherheiten führt. Wir sind derzeit eher im Dunkeln und ich halte es für Blödsinn so zu tun, als stünden wir im Licht. Das ist doch eine Verkennung der Realität. Ich bin da eher wie Schopenhauer: pessimistisch. Wer keine Angst im Leben hat, der hat zu wenig Info. Die Optimismusprediger sind mir suspekt. Es geht mir nicht ums Schwarzmalen aber darum, das Kind beim Namen zu benennen, wie in dem Märchen „des Kaisers neue Kleider, „der Kaiser hat derzeit keine Kleider an“.

Wir sind alle nackt.

Wir sind alle verunsichert. Selbst die Urkulturen des Amazonas oder auf den Andamanen-Inseln im indischen Ozean reagieren mit und sind bedroht. Wer ist denn schon wirklich autonom auf dieser Welt und was soll das sein? Ich jedenfalls nicht. Jeden Tag benötige ich die Unterstützung und Hilfe anderer. Brauche selbst gute Worte und Trost. Jemand der für mich die Kartoffeln sät und die Trauben erntet, damit ich mir abends ein Glas Wein gönnen kann und so fort. Man muss aber leider auch sagen, es ist auch in der Coronakrise wie eh und je. Die einen müssen wieder mehr (er)tragen als andere und wieder andere lassen sich tragen.

Gastronom*innen müssen viel Verantwortung tragen – die so weit geht, das einige Leute des Betriebs verweisen müssen, weil sie sich nicht an die Regeln halten, habe ich mehrfach gehört. Und dann die Sorgen: vor einem erneuten – eventuell auch „nur“ gastronomischen – Lockdown, und überhaupt die mangelnde Planungssicherheit. Was könnte ihnen helfen?

Ich glaube, seit der Coronakrise sind wir noch mehr zum Spielball der Entscheidungen anderer geworden. Andere, welche die Regeln vorgeben, welche die Einhaltung der Regeln kontrollieren und die Brüche der Regeln sanktionieren. Wir haben verschiedene Möglichkeiten damit umzugehen. Wir können Regeln einhalten oder unentdeckt bei deren Übertretung bleiben oder die Strafe bei Übertretung zahlen, manchmal dann eben mit der Gesundheit oder dem Leben. Einige lehnen sich dagegen auf und wollen die Regeln und deren Strafen bei Übertritt abschaffen. Wieder andere wollen die abschaffen, die die Regeln machen. Und einige wollen die mund(tot) machen, die gegen die Coronaregeln und deren Regelmacher opponieren.

Staatliche Unterstützung hilft der Gastronomie nur bedingt weiter. Jeder Gastronom beherrscht mehr oder weniger gut und erfolgreich sein Geschäft. Was er nicht gelernt hat, ist mit Einschränkungen, Regeln und Krisen dieser Reichweite umzugehen. Dies müssen wir nun bitter lernen. Vielleicht hilft da das alte Sprichwort „Es gibst nichts Schlechtes, was nicht auch irgendwo etwas Gutes hat“. Sprüche dieser Art sind aufgrund der sozialen Medien in aller Munde. Wichtiger als deren Inhalt, finde ich, ist dabei der zwischenmenschliche Kontakt und die Bindung. Deshalb ist reale Begegnung der digitalen tendenziell vorzuziehen. Die Begegnung im Restaurant ist besser für den inneren Halt und die Bindung als die Bindung an eine digitale TV-Serie und deren Figuren. Eine Mischung aus beidem ist wohl vorzuziehen. Wobei das Mischungsverhältnis, wie bei einem guten Drink, so ausgewogen sein sollte, dass eine Ingredienz nicht zu stark vorschmeckt.

Auch die Sicherheit der Mitarbeiter*innen ist sehr wichtig. Was lässt sich hierzu psychologisch empfehlen, über verordnete Hygienemaßnahmen hinaus?

An dieser Stelle möchte ich sagen: Holt euch bei Bedarf psychologische Unterstützung bei Kolleg*innen von mir und nicht erst, wenn ihr psychisch am Ende seid. Das wird in der Regel von den Krankenkassen bezahlt und kann manche innere Tür öffnen. Adressen findet ihr bei den Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder im Internet und telefonisch unter 116117. Diese klären ab, ob eine Therapie notwendig erscheint und helfen euch kompetent weiter.

Aufenthaltsqualität, Wohlfühlen, Geborgenheit – wie lassen sich solche gastronomischen Qualitäten in Corona-Zeiten entfalten? 


Ich habe in meinem Buch über primäre Bedürfnisse geschrieben. Es geht hierbei aber auch um Wahrnehmung über alle Sinneskanäle. Diese kann ich bei mir, aber auch bei meinen Gästen, direkt beeinflussen, wie Sehen, Riechen, Schmecken, Hören, Tasten. Beim Tasten zum Beispiel fehlt derzeit oft die Getränke- und Speisekarte. Diese ist jedoch, ebenso wie der Händedruck und die Umarmung, ein wichtiger Teil der Beziehungsaufnahme. Gewohntes fehlt allen derzeit, es ist ein reales Vakuum spürbar. So könnten wir auch von teilweisem Hungern oder Verhungern sprechen, denn vieles entfällt ja wegen der Corona-Maßnahmen. Wir haben es somit mit einer Gastronomie der Mängel zu tun. Wäre es nicht realitätsnah, sich gerade deshalb auch dazu zu bekennen, dass es eben gerade so ist, anstatt das Altgewohnte partout herstellen zu wollen? Geht das überhaupt, wenn doch das Umfeld, der Kontext derzeit eben nicht normal ist?

Die Frage gebe ich noch mal an Sie zurück.

Wie jeder Mangel, der im Leben ersetzt werden muss, ist der Ersatz oft schlechter als das Original. Ein Holzbein ersetzt eben keinen Muskel und eine Krücke keinen gesunden Stand. Es ist eine gastronomische Notbeleuchtung und als solche muss man sie bezeichnen. Unsere Grundbedürfnisse nach Autonomie und Kontrolle sind seit Monaten massiv eingeschränkt. Das ist die Realität. Diese kann man als solche wahrnehmen oder verleugnen, die Welt spalten, sich in eine Regression zurückfallen lassen und die erworbene kulturellen Errungenschaften aufgeben, um in den Dienst der Triebdurchbrüche zu regredieren.

Um die Corona-Regeln zum Schutz des Gastes, aber auch zum Eigenschutz vor gesundheitlichen und juristischen Folgen einzuhalten, waren und sind enorme Anstrengungen nötig. Dieses hohe Engagement innerhalb, aber auch außerhalb der Gastronomie wahrzunehmen, befriedigt unser Basisbedürfnis nach bestmöglicher Sicherheit und Versorgung und trägt somit zur derzeitig bestmöglichen Aufenthaltsqualität bei. Und wie froh kann man derzeit als Gast sein, dass jemand da ist, der einen bewirtet in der Not! Gerade die Notlage des Reisenden war ja der Ursprung der Herbergskultur. Ich glaube: Wir werden weiter Wege finden werden, mit der Krise umzugehen und uns an die veränderten Bedingungen anpassen, weil wir es letztlich seit Monaten müssen.

Vielen Dank, Herr Lampert, und alles Gute. 

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