Pierre Nierhaus: „Babyboomer sind Lifestyle gewohnt“

Interview mit dem Gastronomieberater und Trendexperten über „Ü60“ als Gäste – und als Mitarbeitende

von Jan-Peter Wulf
2944 419 Joppen - interviews-portraits, management, gastronomie Pierre Nierhaus: „Babyboomer sind Lifestyle gewohnt“

Foto: Martin Joppen

Mehr Menschen als in den frühen 1960er-Jahren wurden in Deutschland nie wieder geboren – und nun gehen die „Babyboomer“ in den Ruhestand. Nicht nur hat diese Generation viel freie Zeit, sie ist auch finanziell gutsituiert. Und sie hat andere Ansprüche als die Vorgänger. Wie stellt sich die moderne Gastronomie auf „die jungen Alten“ ein? Darüber sprachen wir mit dem Gastronomie-Berater, Trendexperten – und selbst Babyboomer – Pierre Nierhaus

Babyboomer und Gastronomie: Wie blicken Sie auf das Thema?

Die meisten Babyboomer sind, Corona ausgenommen, völlig krisenfrei durch ihr Leben gegangen: Sie haben den Aufschwung erlebt, haben relativ gut verdient, hatten optimistische Eltern, sind im Gegensatz zur Generation davor oft weit gereist und sie sind relativ fit. Und nun werden sie in die Freizeit entlassen. Praktisch mitten im aktiven Leben: 70 ist das neue 50, sagt man ja. Ich sehe in Hotels und Restaurants viele Großeltern, die mit ihren Enkeln unterwegs sind, zum Beispiel in der Vor- oder Nachferienzeit mit noch nicht schulpflichtigen Kindern. Zudem gibt es jüngere Boomer, die ganz spät Eltern geworden sind. Fantastische Gäste, die haben oft deutlich mehr Geld zur Verfügung als die 30-Jährigen.

Was sind ihre Bedürfnisse und Wünsche?

Die Babyboomer sind Lifestyle gewohnt und wollen genauso am Leben teilnehmen wie die Jüngeren. Sie sind relativ anspruchsvoll, gut informiert und durchaus bereit, Neues und Trendiges auszuprobieren.

Was bedeutet das für den Seniorenteller?

Der ist durch. Wenn der 62-Jährige, der gerade pensioniert worden ist und sich erstmal eine Harley gekauft hat, einen Seniorenteller angeboten bekommt – das wäre furchtbar. Der Anspruch ist hoch: Babyboomer möchten gerne etwas Gutes essen, sie bevorzugen Qualität, Gesundheit und auch Nachhaltigkeit. Veganes und Vegetarisches hält hier Einzug, besonders wenn die Leute städtischer geprägt sind. Und: Bitte kleinere Portionen. Volle Teller widern eher an. Außerdem wird ein gewisses Komfortniveau erwartet.

Zum Beispiel?

Dass eine Speisekarte einfach lesbar ist. Wenn ich erst meine Handybeleuchtung anmachen muss, um eine Karte mit weißer Schrift auf grauem Grund lesen zu können – das geht einfach nicht. Ich muss auch über meine Beleuchtung nachdenken: Mit Tischlämpchen oder Spots kann ich eine angenehme Atmosphäre generieren.

Welche Rolle spielt Sitzkomfort?

Der ist schon sehr wichtig. Es muss aber nicht immer gepolstert sein: Es gibt sehr schöne, ergonomische Holzstühle auch ohne Polster, aus der Bauhaus-Richtung zum Beispiel. Auch wichtig: Das Lokal muss sich einem erschließen, darf nicht zu kompliziert sein: Soll ich jetzt auf einen Host warten oder nicht? Was ganz oft vergessen wird, ist gute Akustik. Es muss für Ältere gar nicht unbedingt so leise sein. Entscheidend ist eine gute Anlage mit am besten mehreren Lautsprechern und einem Subwoofer für einen schönen Sound im Hintergrund. Billige Anlagen arbeiten in einer höheren Frequenz, man versucht automatisch dagegen anzukämpfen, durch höhere Stimmlage, indem man lauter spricht. Dann geht man raus und stellt fest: Das war anstrengend.

Sie sagen, dass Boomer auch eine Lösung gegen Personalmangel sein können. Wie das?

Ich glaube, dass wir die Chance haben, bei den Älteren ganz viele spannende Mitarbeiter zu finden. Es gibt hier zwei Gruppen: Die einen, weil sie unter Menschen wollen und Spaß daran haben. Die anderen, weil sie müssen: Bei einer kleinen Rente und jetzt auch noch Energiekrise ist es willkommen wenn man einen Nebenjob hat.

Wie integriert man Babyboomer ins Team?

Mit 60 ist man vielleicht nicht mehr der schnellste Kellner, klar, aber vielleicht der beste Host? Es sind erfahrene Leute, die Konflikte oder Probleme lösen können, wohingegen Jüngere vielleicht impulsiv reagieren. Mittlerweile ist es in vielen Firmen so, dass Jüngere die Älteren schulen, indem sie ihnen zum Beispiel Social-Media-Tools erklären. Mit solchen Patenschaften müssen wir das auch machen. Und wir müssen ihnen ermöglichen, die Gastsicht und die trendigen Gerichte auf der Karte kennen lernen können – ich habe früher Gutscheine verteilt, damit meine Leute bei uns essen gehen können. Eventuell muss ich einem 65-Jährigen ein Digitalsystem für die Onlinebuchung etwas länger erklären. Aber einmal verstanden, ist es easy. Die Älteren interessieren sich nur für Sachen, die sie brauchen. Aber die können sie richtig gut. Da sehe ich kein Handycap.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Das Interview erschien zusammen mit einem Beitrag über die „Generation Babyboomer“ in der Gastronomie in der Fachzeitschrift fizzz.

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