Die Helden-Helfer*innen: Ilona Scholl und Max Strohe, tulus lotrek Berlin

von Jan-Peter Wulf
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Max Strohe und Ilona Scholl betreiben das „tulus lotrek“ und haben „Kochen für Helden“ ins Leben gerufen. Fotos: Ben Fuchs

In „normalen“ Zeiten bereitet das Berliner Paar seinen Gästen im „tulus lotrek“ launige, genussvolle Abende. Und hat, als das Coronavirus den Betrieb lahmlegte, eine Initiative ins Leben gerufen, die nun deutschlandweit Menschen in Funktionsberufen mit Essen versorgt: Kochen für Helden.

Hinweis: Dieses Portrait entstand im Lockdown und erschien zuerst in fizzz 6/2020. Mittlerweile ist das Restaurant wieder geöffnet. 

Anruf in der Küche des „Speiselokal tulus lotrek“. Im Hintergrund ist Geklapper zu hören. „Jetzt bist du live dabei, gerade kommen die Eimer aus der Jugendstrafanstalt zurück“, erklärt Betreiber und Küchenchef Max Strohe dem Journalisten in der Leitung. Eimer? Jugendstrafanstalt? Ja, es sind ungewöhnliche Zeiten im 15-Quadratmeter-Reich Strohes: Kocht er hier sonst Menüs mit erlesenen Zutaten und sehr persönlicher Note, kocht er aktuell rustikale Schöpfgerichte en gros, in vier Töpfen mit insgesamt 240 Litern Fassungsvermögen. Kartoffel-Lauch-Suppen oder Wurstgulasch werden in große Plastikeimer umgefüllt, diese werden gelabelt (Inhaltsstoffe, Allergene), in Boxen gestellt und mit dem Auto zu den „Kunden“ gebracht, am Folgetag kommen die Eimer dann mit der nächsten Tour zurück wie just in diesem Augenblick. Es klingt nach Gemeinschaftsverpflegung und das ist es irgendwie auch: 800 bis 1.000 Essen werden mittlerweile im „tulus lotrek“ täglich produziert.

Geburt einer Graswurzel-Bewegung

Sprung zurück zum 16. März 2020. Max Strohe und seine geschäftliche und private Partnerin Ilona Scholl sitzen zu Hause. Sie haben gerade entschieden, ihr Restaurant zu schließen – zum Schutze der Mitarbeitenden und Gäste, noch bevor Berlin es kurz darauf allen Betrieben anordnen wird. Nachdem alle Anträge ausgefüllt sind – Kurzarbeit fürs Team, Corona-Zuschuss fürs Unternehmen –, fällt den beiden die Decke auf den Kopf. Nichtstun, das ist der beiden Sache nicht. Was ist eigentlich mit dem Kühlhaus, denken sie sich. Da sind doch noch jede Menge Lebensmittel drin, mit denen wirklich Besseres passieren könnte, als dass sie dort vergammeln.

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Spontan schlüpfen die beiden in ihre Rollen zurück: Max kocht, Gastgeberin Ilona bringt das Essen an den Mann und die Frau, fast wie sonst. Sie ruft Dienststellen – Arztpraxen, Feuerwehrstationen, Krankenhaus-Stationen – an, ob jemand Suppe gebrauchen könne. Das Angebot wird dankend angenommen. Das war am 17. März, am nächsten Tag wiederholen die beiden die Aktion. Sie erkundigen sich bei einem Lieferanten, ob er Ware übrig habe. Jede Menge. Er sponsert ihnen sein halbes Lager für den guten Zweck, er bliebe ohnehin krisenbedingt auf den Lebensmitteln sitzen. Dann fragen die beiden per Facebook, ob es da draußen Restaurants gibt, die sich an der ehrenamtlichen Aktion beteiligen wollen. Die Resonanz ist groß und geboren ist eine gastronomische Graswurzelbewegung: Kochen für Helden.

Lebensmittelverarbeitung en gros

Einen guten Monat später kochen rund 100 Restaurants in Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf, Köln, Chemnitz und vielen weiteren Städten für Menschen in Funktionsberufen, von Sterne-Restaurants bis zum Landgasthof. „Ich habe es mal hochgerechnet, es dürften rund 250.000 Essen sein, die wir im ersten Monat gekocht wurden“, erklärt Ilona Scholl. 18.000 davon allein im „tulus lotrek“. Jedes Restaurant arbeitet eigenverantwortlich (auf der zentralen Webseite www.kochen-fuer-helden.de hält man Hygiene-Empfehlungen und Tipps für die Kollegen parat), jeder greift auf seine eigenen Ressourcen und Lieferanten zurück und hat seine eigenen Abnehmer, von Drogerieketten über Obdachlosen-Unterkünfte bis zu Intensivstationen.

Die Anfragen reißen nicht ab: Überall herrscht derzeit Nahrungsnotstand. Wegen besonderer Vorsichtsmaßnahmen dürfen zum Beispiel auf Intensivstationen Arbeitende nicht die Betriebskantine nutzen; Restaurants sind geschlossen, dazu das erhöhte Arbeitsaufkommen – für die „Helden“ ist es schwer, an gutes, gesundes Essen zu kommen. „Kochen für Helden“ hat sich schnell professionalisiert, in Hamburg beispielsweise machen mehrere Restaurants (u.a. „Bullerei“, „Salt & Silver“ und „hæbel“)
gemeinsame Sache und haben Beschaffung und Logistik zusammengelegt.

So auch in Berlin: Hier machen unter anderem die „tulus lotrek“-Nachbarn „Herz & Niere“, das „einsunternull“, das „21gramm“ und das „Brlo Brwhouse“, um nur einige zu nennen. Max Strohe kümmert sich um die Koordination der kostenlos von Händlern wie Rungis Express, Metro, Havelland oder Frischeparadies bereitgestellten Ware. Die Dimensionen sind enorm: Paletten à 80 Kisten mit je drei Kilo Champignons oder fünf Kilo Paprika, 250 Kilogramm Falafelpommes und hunderte Liter Schlagsahne sind Mengen, die auf einen Schlag eintreffen und zügig verarbeitet werden wollen.

Viel wird ins „Brlo Brwhouse“ geliefert, das große Container besitzt, die sonst für die Lagerung des selbst gebrauten Bieres verwendet werden. „Die Ware wird angenommen, es wird alles niedergeschrieben, die Restaurants bekommen die Info, was es heute gibt und holen es sich ab. Oder sie werden auf einer der Liefertouren angefahren“, erklärt Max. Über eine Spendenkampagne kommen Gelder hinein, mit denen sich ein Teil der Kosten für zusätzlich benötigte Lebensmittel sowie Ver- und Gebrauchsmaterial finanzieren lässt.

Fine Dining mit viel Persönlichkeit

Man darf nicht vergessen: Das Ganze geschieht ehrenamtlich und aus purer Solidarität. Die teilnehmenden Restaurants und deren Mitarbeitende verdienen an „Kochen für Helden“ keinen Cent, viele sind existenzbedroht. Dank guter Rücklagenbildung sieht es im „tulus lotrek“ nicht ganz so schlimm aus, lässt man uns wissen. Zukunftssorgen macht man sich natürlich dennoch. Knapp fünf Jahre gibt es das Restaurant in der Kreuzberger Fichtestraße nun. Max und Ilona lernten sich bei ihrem vorherigen Arbeitgeber kennen, dem Restaurant „Frau Mittenmang“ im Prenzlauer Berg.

Ilona hatte schon während ihres geisteswissenschaftlichen Studiums leidenschaftlich gerne im Restaurant-Service gearbeitet, weit entfernt vom reinen Tellertaxi. Max kochte zuvor unter anderem im Berliner „Café Ritz“, im „The Grand“ und insgesamt fast vier Jahre im „Restaurant Hohenzollern“ in Ahrweiler, wo er auch seine Ausbildung abschloss. „Dort habe ich meine Liebe zum Kochen gefunden“, erinnert er sich. Und mit der Liebe zueinander wuchs bei den beiden auch der Wunsch, gemeinsam das Angestellten-Dasein in der Gastronomie hinter sich zu lassen und selbst ein Restaurant zu eröffnen. Gesagt, getan, in der gelernten Rollenaufteilung: Max kocht, Ilona ist Gastgeberin.

Auszeichnungen gab es dafür schon einige: 2016 wurde Max bei den „Berliner Meisterköchen“ zum „Aufsteiger des Jahres“ gekürt, Ilona ein Jahr später zur „Gastgeberin des Jahres“. 2018 erhielt das „tulus lotrek“ seinen ersten Michelin-Stern. Mit seinen besonderen Menüs und Gängen wie Jakobsmuschel und Seeigel mit Yuzu und Karotte oder Taube, Wacholderholz und vergorener Honig. Dazu ausgewählte Weine, die aus Deutschland, aber auch mal aus Ungarn oder Serbien kommen, es kann aber auch ein Sherry sein, der perfekt zur Jakobsmuschel passt. Oder ein Gin. Wie kaum ein anderes Fine-Dining-Restaurant der Stadt, wenn der sperrige Begriff hier überhaupt angebracht ist, verbinden Qualität derart mit herzlich-persönlichem Service und Lust am Genuss – wenn die Gäste glückselig und gerne nach ein, zwei Gläsern mehr als geplant ihren Abend im „tulus lotrek“ beschließen, ist auch das Team happy.

Sinnvolles Zusammenwirken

Von diesem Genussgeschäft ist man zurzeit denkbar weit entfernt. Das sonst so bevölkerte, lebhafte Restaurant, das nicht nur wie eine Wohnung aussieht, sondern ursprünglich auch eine ist – leer. Der sonst so enge Kontakt zu den Gästen – für den Moment gewichen einer kontaktlosen, auf höchste Sicherheit ausgelegten Speiseproduktion, deswegen sprechen wir auch am Telefon und treffen uns nicht vis-à-vis. „Wir vermissen unsere Gäste wahnsinnig“, sagt Ilona, und Max stimmt ihr zu.

„Aber es geht uns auch jetzt noch um das Wohlgefühl und die Wärme, die wir mit unserem Essen erzeugen wollen“, ergänzt Ilona. Was ihnen, wie allen Für-Helden-Kochenden, täglich aufs Neue gedankt wird. Von den Insassen der Jugendstrafanstalt bekamen sie beispielsweise Tulpen und selbstgemachte Kalender geschenkt. Und es sei, kriseninduziert, etwas Wertvolles in der Berliner Gastronomielandschaft entstanden: ein großer kollegialer Zusammenhalt. Ilona: „Es beeindruckt uns nachhaltig, was mit den Gastronomen passiert ist, als es auf einmal keine Konkurrenz, keinen Markt, keine knappe Ressource namens Gast mehr gab. Ein sinnvolles Zusammenwirken ist entstanden. Wir fänden es toll, wenn dieser Schulterschluss bestehen bleibt.“

Speiselokal „tulus lotrek“
Fichtestraße 24
10967 Berlin
www.tuluslotrek.de

Kochen für Helden: www.kochen-fuer-helden.de
Spendenkampagne: www.betterplace.me/kochen-fuer-helden

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