Friedelstraße Neukölln: Auf dem Weg zur Gastromeile?

von Jan-Peter Wulf
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Foto: Redaktion

Mitten im angesagten Kiez von Nord-Neukölln, der auch „Kreuzkölln“ genannt wird, liegt die Friedelstraße, gekreuzt und eingerahmt von den bekannteren Kollegen Weserstraße, Sonnenallee und Maybachufer. Binnen kurzer Zeit hat sie sich entwickelt zur … ja, kann man es eigentlich schon Gastromeile nennen? 

Fakt ist: Von Norden bis Süden ist sie gerade einmal rund 750 Meter lang und kommt im Jahr 2019 auf rund 25 Gastronomien – Feinkostläden, Weinhandlungen sowie Gastronomien, die sich angrenzend auf den kreuzenden Straßen befinden, nicht mitgezählt. Das ist schon eine ganze Menge. Robert Peveling-Oberhag, der seit vier Jahren am nördlichen Ende der Straße das peruanische Chicha betreibt: „Ich sehe die Straße tatsächlich als Gastromeile, ohne jetzt eine feste Definition dabei anzuwenden. Aber die Vielfalt aus Länderküchen und Preisniveaus sowie die schiere Anzahl an Läden ist schließlich ausschlaggebend.“

Sein Kollege Oliver Bischoff, der seit gut drei Jahren zusammen mit René Frank das Dessert-Restaurant Coda macht – 2019 gab es den ersten Michelin-Stern – möchte hingegen nicht von einer Gastromeile sprechen. „Ich hoffe auch, dass es niemals eine Meile wird. Die Gastronomie ist für die Bewohner der Häuser auch eine Belastung und es reicht, wenn alle zehn Häuser eine Gastro ist.“

Keine Spur mehr von verschlafener Kiezstraße

Damit sind wir mitten im Thema: Gastronomie, Wohl und Wehe. Attraktiver Pull-Faktor für eine Straße, der viele Menschen herbei zieht, das Angebot aufwertet, einen Ort bunter macht. Und zugleich für die Anwohner eine zunehmende Herausforderung: Lärm, Müll, Stress und für alteingesessene gewerbliche Mieter die Sorge, vielleicht sogar verdrängt zu werden – der 2016 beschlossene Milieuschutz für das Quartier Reuterplatz, zu dem die Friedelstraße zählt, greift bei ihnen nicht. Eine Gentrifizierung par excellence binnen kurzer Zeit: Noch bis vor rund zehn Jahren war es hier recht ruhig. Mit ein paar Eckkneipen (ein paar wie das „Rosel“ existieren noch) und typischen Berliner Bäckern lag in der Friedelstraße als Teil eines Arbeiterkiezes lediglich eine Art Grundversorgung vor – vom legendären ehemaligen Kultur- und Bohème-Treff „Kinski“ einmal abgesehen. Künstler zogen her – die Mieten waren günstig, das seinerzeit wesentlich angesagtere Kreuzberg fängt gleich auf der anderen Seite der Hobrechtbrücke an. 

Heute hat man gastronomisch fast mehr zu bieten als die ebenfalls gut bestückte Ohlauer Straße, Verlängerung der Friedelstraße jenseits des Landwehrkanals. So schöpft man mit hippen Eisdielen wie „Fräulein Frost“, individuellen Cafés wie „Katies Blue Cat“, „Katulki“ oder „Tischendorf“ sowie Restaurants wie den bereits genannten „Chicha“ und „Coda“, dem baskischen „Txokoa“, dem griechischen „Blaue Tische“ (plus dem rustikalen „Odysseus“), dem südostasiatischen „Chez Dang“ oder dem koreanischen „Paran“ aus dem Vollen.

Eine Vielfalt, die selbst in Neukölln ihresgleichen sucht. Die aber gleichzeitig für mehr Frequenz, mehr Menschen und mehr Lautstärke am Abend sorgt. Auch, wenn viele Betriebe ihre Gäste mit Hinweisschildern darum bitten, sich draußen vor allem zu später Stunde bitte ruhig zu verhalten – einmal am Freitag- oder Samstagabend über das holprige Trottoir der Friedel flanieren genügt, um festzustellen, dass es mit der Ruhe nicht weit her ist. Lediglich im Abschnitt zwischen Pflüger- und Lenaustraße fällt der Lärmpegel ab – später errichtete Neubauten lassen hier schon vom Baulichen her so gut wie keine Gastronomien im Erdgeschoss zu. Und wer ganz genau hinhört, hört die Rollkoffer klappern – ein Geräusch, das in Berlin mit der „Touristifizierung“ gleichgesetzt wird.

Auf dem Weg zur Partymeile?

Touristifizierung: Diesen Begriff findet man auch im April 2019 veröffentlichten Tourismuskonzept Bezirk Neukölln, den das Bezirksamt in Zusammenarbeit mit zwei Beratungsunternehmen produziert hat. Der fortschreitenden „Touristifizierung“, so empfiehlt das Papier, sollte dringend Einhalt geboten werden. „Überhandnehmender Party-Tourismus führt zu ablehnender Haltung gegenüber Tourismus in der Bevölkerung und zu Veränderung der lebendigen, kleinteiligen Kiezstrukturen“, warnt man. Eine Veränderung, die sich auf der die Friedelstraße kreuzenden Weserstraße mit ihren Kneipen und Bars – auf der Friedelstraße noch rar – schon abzeichnet. Sie wird schon als „neue Simon-Dach-Straße“ bezeichnet in Anspielung auf jene Ausgehmeile im Stadtteil Friedrichshain, die längst recht fest in der Hand von günstigen Restaurants, Imbissen und Happy-Hour-Bars ist und wenig Wohnqualität hat.

Abseits des Mainstreams

Damit es hier nicht so weit kommt, rät das Tourismuskonzept zu einer Vielzahl von Maßnahmen. Sie reichen von Aufklärungskampagnen, die Touristen durch Flyer und andere Marketingprodukte über die Situation informieren über verstärkte Kontrollen durch das Ordnungsamt bis zu Veranstaltungen zur Förderung des Dialogs zwischen den Akteuren („Conversation Cafés“, runde Tische, Workshops etc.). Spannend ist auch, was unter der Kapitel-Überschrift „Vision – Neukölln 2030“ zu lesen ist, nämlich dass der Kiez eine „hochwertige Nischenstrategie“ brauche, cool und individuell bleiben muss, um seine Selbstähnlichkeit zu wahren: „Stark profilierte, hochwertige Kulturangebote abseits des Mainstreams mit starker thematischer und mentaler Verankerung in Neukölln treten stärker ins ‚Rampenlicht‘. Dabei immer echt und authentisch.“

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Neuer Nachbar: Neben dem „KulturCafé“ eröffnete eine Filiale von „The Barn“. Foto: Redaktion

Diese Nische sehen einige Unternehmen vor Ort offenbar als bedroht an: Die Eröffnung einer Café-Filiale von „The Barn“ (acht Outlets in Berlin) wurde, so ist in der „Berliner Morgenpost“ vom 1. Oktober 2018 zu lesen, als Beginn einer Verdrängung kleiner, ortsansässiger Unternehmen interpretiert. Das kennt man: Alte gewerbliche Mieter müssen ausziehen, weil die Mieten drastisch erhöht werden, es rücken diejenigen nach, die es sich leisten können, zum Beispiel Systemer oder Multi-Filialisten. Einige lokale Gastronomen der Friedelstraße, unter anderem vom benachbarten „Tischendorf“ und dem „KulturCafé Friedelstraße“, fordern nun einen Gewerbemilieuschutz, um eine „Gastro-Gentrifizierung“ zu verhindern. Für „The Barn“-Betreiber Ralf Rüller indes war es nach eigenen Angaben nur natürlich, in der Straße ein Café anzusiedeln: „Neukölln unterliegt einem positiven Wandel, der sehr viel Kreativität und Internationalität in die Nachbarschaften gebracht hat. Viele unserer Baristas und Kunden leben dort.“

Letztlich hat hier vermutlich jeder Akteur seine eigene Perspektive auf eine Straße, die – soviel ist klar – stark in Bewegung ist. Wo so viele unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse vorliegen wir hier, braucht es Dialog. Diesen soll, so hört man, bald ein eigener „Night Mayor“ leiten und moderieren, nach dem Vorbild anderer Städte wie Amsterdam oder Mannheim. Wir bleiben dran. 

Hörtipp: Die Friedelstraße im Radio – eine Sendung von Radio Eins.

Ausgewählte Gastronomien vor Ort: 

Chicha

Die trendige Kulinarik Perus hat Robert Peveling-Oberhag nach Berlin gebracht – das „Chicha“ war erst als Streetfood-Nomade in der Stadt unterwegs und hat nun seinen festen Platz in der Hausnummer 34. Chefkoch Simón Amaru Castro Mendoza ist in Essen/Ruhr geboren, hat peruanische Wurzeln und serviert – natürlich – Ceviche, Tiraditos (peruanisches Sashimi, ein Gericht der peruanisch-japanischen Nikkei-Küche), den landestypischen Hühnertopf Aji de Gallina oder marinierten Schweinebauch auf Bananenpüree. Dazu gibt es Bier, Wein oder den südamerikanischen Kult-Cocktail Pisco Sour.
Friedelstraße 34
www.chicha-berlin.de

Tischendorf

Erst verkaufte Jutta Tischendorf, das war vor rund zehn Jahren, auf dem legendären türkischen Wochenmarkt am angrenzenden Maybachufer Bananenbrot – den heute omnipräsenten Coffeeshop-Kuchen kannte man seinerzeit in Berlin kaum, Tischendorf hatte ihn in Australien schätzen gelernt. Auf der Karte ihres idyllischen Kiezcafés finden sich auch Carrot Cake und veganer Schokokuchen mit Erdnussbutterglasur und wechselnde herzhafte Speisen – alles hausgemacht und nach Zero-Waste-Prinzip möglichst so zubereitet, dass nüscht übrig bleibt.
Friedelstraße 25
www.tischendorf-berlin.com

The Barn

Eyecatcher in der mittlerweile achten Café-Location von Ralf Rüller ist ein raumfüllender, kreisrunder Tisch, an dem bis zu 15 Gäste Platz nehmen können. Viel Holz prägt das Interieur – man hat sich bei Materialien und Farben vom bereits existierenden Parkettboden inspiriert. Single-Origin-Espresso und handgemachter bilden den Kaffee-Schwerpunkt, uu essen gibt es neben hausgemachtem Gebäck auch Hipster-Klassiker wie Avocado-Toast mit pochiertem Ei oder Açaí-Bowls mit Porridge und Granola. Bargeldzahlung hat „The Barn“ seit August komplett abgeschafft.
Friedelstraße 27
www.thebarn.de

Paran

Die Ecklocation Sanderstraße/Friedelstraße liegt eigentlich perfekt: viel Licht dank Südwest-Ausrichtung, viel Straßenland. Und doch ist sie verhext: Gastronomien wie der „Hamburger Heaven“, das „Filetstück Pigalle“ oder das „Rusty“ blieben hier mehr oder weniger glücklos. Erst vor wenigen Wochen hat das koreanische „Paran“ hier seine Türen geöffnet. Koreanisches Barbecue, Bibimguksu (kalte Nudeln), frittiertes Hühnchen, Pajeon (Pfannkuchen) und vieles mehr steht hier auf der Karte.
Sanderstraße 17/Ecke Friedelstraße
www.paranberlin.de

Coda Dessert Dining & Bar

Oliver Bischoff kennt man in der Branche als Designer und Gastro-Konzepter („Ett La Benn“). Zusammen mit René Frank, zuvor Pâtissier im mittlerweile geschlossenen Dreisterner „La Vie“ in Osnabrück, hat er 2016 das „Coda“ eröffnet. Ein Restaurant mit Bar, das Desserts neu denkt: Nicht nur süß, sondern auch mal herzhaft – und immer besonders, vom „Nachtisch“ als Ende eines Menüs zum Hauptdarsteller geadelt. Begleitet von ausgewählten Weine, Spirits und eigenen Drink-Kreationen. 2019 gab es den ersten Michelin-Stern.
Friedelstraße 47
www.coda-berlin.com

Txokoa
Txokos heißen die überall im Baskenland verbreiteten Kochgesellschaften, in denen sich Menschen treffen, um gemeinsam Speisen zuzubereiten und zu genießen. Hier hingegen wird für die Gäste gekocht – sie dürfen sich aufs Essen, Trinken und Genießen konzentrieren. Tapas mit baskischem Schwerpunkt (z.B. Txistorra, die regionale Paprikawurst, mit Kartoffeln und Knoblauchsauce oder geräucherter Schafskäse mit Quittengelee) stehen auf der Karte. Man mixt aber auch ein Hirschsteak aus Brandenburg mit den obligatorischen Pimientos de Padrón.
Weserstraße 6/Ecke Friedelstraße
https://txokoa.de/

Dieser Beitrag erschien zuerst in FIZZZ Ausgabe 10/2019. 

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