5 Gastronomie-Trends 2020

von Jan-Peter Wulf
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Illustration: Susann Massute

Womit wird sich die Gastronomiebranche in diesem Jahr besonders beschäftigen, wohin geht die Reise? Hier sind unsere 5 großen Trend-Themen für das Jahr 2020. Und wie immer schauen wir, wie sich die Trends aus den Vorjahren weiter entwickeln. 

1. Foodprint-friendly

„Was uns antreibt, ist nicht der Glaube, dass alles gut wird, sondern die Überzeugung, dass die Katastrophe nicht unausweichlich und viel Gutes noch machbar ist.“
Luisa Neubauer und Alexander Repenning, Vom Ende der Klimakrise

Der tägliche Blick in die Nachrichten bestätigt es: Der Klimawandel kommt nicht. Er ist da. Wir befinden uns mittendrin – es wird auch vom Echtzeit-Klimawandel gesprochen – und steuern mit den derzeitigen CO2-Emissionen auf eine Welt zu, die bei aktuellem Kurs vielleicht schon am Ende dieses Jahrhunderts, großenteils für den Menschen unbewohnbar sein wird. Ein schrecklicher Trend. 2020 ist das Jahr, in dem entschieden wird, ob wir auf diesem Kurs bleiben oder umsteuern, sprich die globalen Emissionen durch wirksame Maßnahmen kontinuierlich senken, bis sie bei Null ankommen.

Die Weichen stellen müssen die Verantwortlichen in den Regierungen der Welt, damit endlich ein Kurs gen Dekarbonisierung genommen wird. Aktuell ist das Gegenteil der Fall, es wird global immer mehr CO2 ausgestoßen. Diese Notwendigkeit einer Weichenstellung entlässt – das ist unsere Meinung – die einzelnen Menschen und auch die Betriebe aber nicht aus der Verantwortung, auch selbst etwas zu tun. Gefragt ist ein Mix aus Vorgaben und Handeln aus Eigenverantwortung,

Insofern ist der Klimawandel ein „Gastro-Trend“: Er wird uns fortan für alle Zeiten beschäftigen. So, wie Globalisierung und Digitalisierung sich in den vergangenen Jahrzehnten zu Megatrends entwickelt haben, die auch die Branche beschäftigen, tut es nun auch dieses sehr unschöne Thema, zumal die Lebensmittelherstellung rund ein Fünftel der Emissionen hierzulande verursacht. Gastronomien können, wie sie es immer schon tun, ihren Gästen Impulse geben. Sie können zeigen, dass Klimafreundlichkeit, Kochen, Essen, Trinken und Genuss sich durchaus verbinden lassen.

Ganz praktisch möglich macht es zum Beispiel die Nutzung des Klimatellers, einer Web-App, mit der sich der CO2-Fußabdruck von Speisen berechnen lässt. Hier wird transparent, wie hoch die Emissionen pro verwendeter Zutat sind. (Details dazu hier). Genutzt wird er beispielsweise schon seit längerer Zeit in der Mitarbeiter*innen-Kantine der Berliner Wasserbetriebe – einmal pro Woche haben alle angebotenen Speisen nach Klimatellerberechnung maximal 800 Gramm CO2 pro Portion, das ist grob weniger als die Hälfte einer gängigen Speise. Immer mehr Unternehmen setzen den „Klimateller“ als Tool bereits ein, auch Individualgastronomien wie der Münsteraner Kiepenkerl beispielsweise.

Klimabewusstsein wird auch dadurch wirksam, dass zum Beispiel Fokus auf möglichst regionale, saisonale und/oder vorwiegend bis gänzlich pflanzenbasierte Lebensmittel, wie es zum Beispiel das Berliner Restaurant Frea tut. Emissionen im ersten Schritt zu messen, Kreisläufe zwischen Lieferanten und Gastronomie zu schließen, wie es das Konzept De Clique in Utrecht vormacht, möglichst keine Abfälle zu produzieren und Misfits en gros zu verwerten, auf Einwegverpackungen zu verzichten, kurze Lieferwege zu bevorzugen, echten Ökostrom zu verwenden, energiesparend zu arbeiten und vieles mehr sind einzelne Bausteine, die im Gesamten auch bessere Klimabilanzen mit sich bringen.

Vielleicht lässt sich auch ein – moderater – Aufpreis erheben, wie es derzeit Restaurants in Kalifornien tun? Eine Art „Anti-Kohlepfennig“ für eine klimafreundliche Gastronomie? Das Geld kommt der Initiative Restore California zugute, die damit Bauern unterstützt, die klimafreundliche Erzeugnisse anbauen können, welche dann wieder in die Restaurants kommen.

Die Initiative ist Teil von Zero Foodprint, einem Zusammenschluss von Restaurants auf der ganzen Welt, die Klimaneutralität anstreben. USA, Australien, Mexiko, Dänemark, Spanien … Stand heute (Januar 2020) ist noch kein deutsches Restaurant dabei.

Die Klimawandel-Debatte in Deutschland wird ja zum Teil sehr hitzig geführt, der Begriff „Verzicht“ ist in diesem Zusammenhang zu einem echten Reizthema geworden. Dass wir uns als Lebensmittel-Konsument*innen einschränken müssen, davon sind Expert*innen wie Patrick Wodni, der gerade mit Kantine Zukunft die Berliner Gemeinschaftsverpflegung umkrempelt und den Bio-Anteil massiv erhöhen will, überzeugt. Dass man Verzicht in der Hoga-Branche auch denken kann – nämlich was ist wirklich verzichtbar, was erzeugt gar keinen gefühlten Mangel, das erklären die Nachhaltigkeits-Expertinnen von Tutaka. Eine große Aufgabe in diesem Kontext ist es, Gäste durch Kommunikation abzuholen und einzubinden. Dazu laufen derzeit verschiedene Pilotprojekte dazu, zum Beispiel von BildungKlima plus und Greentable.

Auch in der Clubszene ist das Thema angekommen: Hier finden Workshops und Treffen statt, die klimafreundliches Feiern durch Reduktion von Emissionen und Verwendung moderner Energiespartechnik forcieren. So geht es auch: Der Berliner Club „Wilde Renate“ lässt alle Gäste (inklusive Gästeliste!) und auch Künstler*innen pro Event 50 Cent in einen „Klima-Klingelbeutel“ werfen, mit dem Geld wird die CO2-Kompensation via atmosfair bezahlt. Der ebenfalls Berliner Club „Schwuz“ will gar die beim Tanzen entstehende (Ab-)Wärme zum Heizen eigener Betriebsräume und umliegender Gebäude nutzen – das behalten wir im Auge.

Klingt freaky? Vielleicht, aber wir werden in den nächsten Jahren bestimmt viele Praxisbeispiele in der Branche sehen, die aus Sonne, Wind und Co., vielleicht auch aus Abfällen „grüne“ Energie erzeugen, statt Kohlestrom zu nutzen. Jede Gastronomie ein kleines Kraftwerk – spricht die Politik nicht ständig von der dezentralen Zukunft der Energiegewinnung?

Ach ja. Natürlich gibt es auch einen Premium-Wodka, der seinen Teil zur Dekarbonisierung beiträgt. Doch im Ernst: Was allein die Getränkeindustrie (von der Foodbranche ganz zu schweigen) an Dingen tun kann und muss, um sich nachhaltiger und somit auch klimabewusster aufzustellen, darüber sprachen wir im vergangenen Sommer mit dem Experten Erwan Castain.

Noch ein Satz: Schön ist, dass ein Großteil der neuen Konzepte, die in der hiesigen Gastronomie eröffnen, neben Genuss und Qualität auch auf Nachhaltigkeit und in diesem Zuge auch auf Klimafreundlichkeit bedacht sind – hier wird immer öfter über den eigenen Tellerrand hinaus gedacht, ist unser Eindruck. Eine neue Gastro-Generation entsteht, die Mut macht.

Für Hinweise zu weiteren klimabewussten Ansätzen aus der Branche sind wir dankbar!

2. Gastrofarming

„Eeating is an agricultural act.“ 
Wendell Berry, US-Essayist und Landwirt

Direkter, individueller und auch klimafreundlicher, als selbst Angebautes auf die Teller zu bringen, geht es ja kaum. Derzeit ist festzustellen, dass das Thema – an sich kein neues, Restaurants mit eigenem Kräuter- und Gemüsegarten, ja, die hat es immer schon gegeben – an Bedeutung zunimmt und viele Darstellungsformen zeitigt: Sei es die Verwendung von Indoor-Farmen wie jene des gen Unicorn steuernden Startups Infarm, dessen vertikale Farmen in vielen Betrieben (z.B. im „Beba“ im „Layla“ sowie in allen drei „Good Bank“-Filialen in Berlin) und sogar im Lebensmittel-Einzelhandel stehen. Oder urbane Gärten wie die Leipziger Annalinde, die gleich mehrere lokale Gastronomien mit Gemüse und Co. aus eigenem Anbau beliefert – solche Gärten gibt es mittlerweile ja viele, die ehemalige Landwirtschaftsministerin Renate Künast hat dazu im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht.

Schon viele Jahre versorgt sich das Café Botanico in Neukölln von der eigenen Hinterhof-Permakultur. Die Catering-Expertin Ricarda Farnbacher macht ihre Veranstaltung mit Selbstgezüchtetem besonders, und das fränkische Sosein hat 1,4 Hektar Land mit Vintage-Tomaten und -Kartoffeln.

Urbaner gelegen könnte das schöne Projekt Green Pauli auf dem Dach der Hamburger Brauerei Überquell nicht sein – mit Blick auf die großen Docks auf der anderen Elbseite pflanzen hier benachbarte Schulen ihr Grünzeug fürs Schulessen an. Natürlich nicht ausschließlich, dafür sind die Mengen zu klein – aber das kann ja wachsen! Dass sich sogar große Gemeinschaftsverpflegungen damit teilversorgen lassen, zeigt dieses Beispiel aus einem Krankenhaus in Boston: Über zweieinhalb Tonnen Biogemüse per annum sind schon recht ordentlich.

Es muss auch nicht unbedingt das Ziel sein, sich völlig autark zu machen, wie der Sylter Koch und „Eigenanbauer“ Johannes King im Feinschmecker Podcast betont: „Es ist ein wahnsinnig guter Zusatz, die Kräuter sind wie Gewürze, die wir oben drauf machen, weil sie so intensiv sind. (…) Das ist dieser kleine Unterschied, den wir mit dem Garten zusätzlich machen können.“

Das Neuköllner Restaurant „Tisk“, das vor allem berlinerisch kocht, hat gar einen eigenen Bauernhof in Neu Plaue. Der ist nicht nur Anbaustätte, sondern auch Ausflugsziel mit vier Doppelbett-Zimmern ist. Gekocht wird gemeinsam mit den Gästen auf der Terrasse und der Diele. Da wird der Produktionsort wiederum selbst zur Gastronomie wie beim italienischen Agriturismo. Ebenso betreibt der britische Koch und Multigastronom Simon Rogan eine Farm, er schreibt zu seinem Bauernhofprojekt: „Our aim is to grow near perfect produce in a natural and sustainable way. Growers and chefs work side-by-side to create the ingredients used in all of our restaurants. Our farm is an extension of our kitchens, applying the same ethos, drive and attention to detail“.

Nicht jeder Betrieb kann einen eigenen Bauernhof bzw. einen eigenen Anbau haben wie dieses beeindruckende Konzept aus Melbourne, das ist klar. Umso mehr sollte es gehen, die Verbundenheit zwischen Erzeugenden und der Gastronomie zu stärken. Dies ist auch das erklärte Ziel von Die Gemeinschaft, einer Initiative der Berliner Restaurants Nobelhart & Schmutzig und Horvath. „Unsere Gemeinschaft bietet den Rahmen und die Ressourcen, um Erzeuger, Gastronomen und Gemeinschaftsverpflegung in direkten Austausch miteinander zu bringen“, erklärte Billy Wagner beim spannenden Symposium im Herbst 2019 auf Gut Kerkow in Angermünde, das selbst Teil eines solchen From-Farm-To-Table-Netzwerks ist. Immer mehr Stadtmenschen lassen sich eine Gemüsekiste liefern und arbeiten z.T. sogar in solidarischen Landwirtschaften mit – was auch für die Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung spannend sein könnte, um eine neue Nähe und ein besseres Verständnis für Anbau, Herkunft und Co. aufzubauen.

Geht das alles nur für Restaurants, die auf regionale Küche setzen? Aber nein: Zusammen mit der Gärtnerei Grünkorb züchten die Betreiber des Salt & Silver aus Hamburg die für ihre pikante Lateinamerika-Küche unverzichtbaren Chilis ebenso wie ausgewählte asiatische Kräuter- und Gemüsesorten. En gros geht an das Thema das neue Berliner Fresh Tasia heran: Hier werden von der Bittermelone über Shiso bis zum Wasserspinat Dinge, die sonst vor allem als Tiefkühlware zu uns kommen, gezüchtet und u.a. an die Gastronomie verkauft. Aus dem Tropenhaus am Rennsteig kommen sogar Papayas und Guaven, wenngleich wohl noch nicht zu marktfähigen bzw. für die Gastronomie darstellbaren Preisen und Mengen. Und dass sich Zutaten, die vor der Haustür wachsen, sogar wild wachsen, für großartige Cocktails nutzen lassen, zeigt das Team der Berliner Bar „Velvet“, Bar des Jahres 2019 bei den Mixology Bar Awards: Was rings um die Bar, zum Beispiel auf dem nicht weit entfernten Tempelhofer Feld wächst, wird für diverse hausgemachte Produkte genutzt – ganzjährig.

3. Third Places

„Third Place Living bietet attraktive Gestaltungsräume, die sich in den fluxen Alltag des urbanen Individualisten einflechten und das dezentrale Wohnen zum Living verwandeln.“
Zukunftsinstitut

Gastronomien sind Orte der Begegnung und somit „dritte Orte“ zwischen Zuhause und Arbeitsplatz. Dies scheint aktuell mehr denn je zuzutreffen, denn zurzeit entstehen ganze Gastronomie-getriebene Möglichkeitsräume in unseren Städten, die diese integrative Funktion übernehmen, einen Mix aus Aufenthalts- und Genussort, Arbeitsplatz (nicht nur für die berüchtigten „digitalen Nomaden“) und teilweise sogar Wohnort darstellen. Beispiel Leipzig und Dresden: Das Lebendige Haus bietet praktisch eine ganze Stadt unter einem Dach, von mietbaren Büroflächen über Eventlocations und Ladengeschäften bis hin zu Gastronomie und „Wohnungen“ (gut, es sind Fünf-Sterne-Suiten, die sich nicht jeder leisten kann).

Das neue „Utopia“ in München, ehemalige Reithalle, versteht sich nicht als klassische Eventlocation, sondern als Happening Place mit einer Vielzahl von Veranstaltungen von Konzerten über Nachtflohmärkte bis zu Konferenzen, als ein Ort, der „für alle Münchner“ da sein will. Auf dem Areal nahe des Münchner Ostbahnhofs, das einst als „Kunstpark Ost“ und später als „Optimolgelände“ einer der größten Nightlife-Freizeitparks des Landes war, wächst derzeit das Quartier „Werksviertel“, das „Leben, Wohnen und Arbeiten“ auf einzigartige Weise verbinden will. In Zahlen: 3.000 Menschen sollen hier wohnen, 7.000 arbeiten – und übers Gelände verteilt gibt es Dutzende von kleinen und großen Gastronomien, die als verbindendes Element fungieren.

In Dortmund eröffnet mit dem Tresor.West in diesen Tagen ein „Mehr-als-Club“, in dem es nicht nur Technopartys wie im Berliner Original geben wird, sondern der auch Kulturstätte und Ort für Konferenzen und andere Veranstaltungen sein soll  – und damit mitten in der aktuellen Diskussion steht: Sind Clubs eigentlich Vergnügungsstätten (aktuelle Einordnung) oder Kulturorte? Was bezüglich Bestandsschutz und Rechten einen deutlichen Unterschied macht. Im benachbarten Essen/Ruhr gibt es mit dem Unperfekthaus als Kultureinrichtung, Galerie, Arbeitsplatz und Gastronomie schon seit 2004 (!) einen solchen Third-Place-Pionier, und wie sich in Zeiten deutlich zurückgehender Bedeutung der kirchlichen Gemeinden als gesellschaftlich verbindendes Element deren Begegnungsorte wieder neu aufladen lassen, zeigt die ebenfalls in Essen beheimatete Kreuzeskirche: Sie ist Heimat der dortigen evangelischen Gemeinde und Eventlocation, „ein Ort für Menschen“, schreibt man auf der Homepage. Hier finden Gottesdienste und Partys/Events gleichermaßen statt. Warum nicht?

Einen dritten Ort mit viel Liebe fürs Detail und handwerklicher Finesse haben auch die Macher*innen des Berliner Holzmarkts geschaffen – allen Hürden und Schwierigkeiten zum Trotz. War dessen Keimzelle Bar 25 noch ein kleiner Afterhour-Schuppen an der Spree für eine eher spitze Zielgruppe, ist daraus ein ganzes Quartier gewachsen, das Gastronomien ebenso beherbergt wie Büro- und Tagungsräume und sogar eine Kita. Die neuen The Student Hotels in Dresden, Berlin und weiteren Städten Europas verbinden unter einem Dach Gastronomie, Aufenthalts- und Arbeitsplätze sowie Kurzzeitübernachtungen (also Hotelbetrieb) und Langzeitaufenthalt für Studierende.

Sollte 2020 tatsächlich der BER eröffnen – diese Trendprognose wagen wir noch nicht! – dann rückt auch die Zukunft des bisherigen Flughafens Tegel näher: Hier soll dann ein Mix aus Arbeiten (u.a. im neu entstehenden Technologiepark), Wohnen und Freizeitangeboten – inklusive Gastronomie natürlich – entstehen. Wir werden sehen. Spannend wird auch, wie sich die Frage Karstadt am Neuköllner Hermannplatz löst: Der Investor plant den Abriss des bestehenden Gebäudes und einen Wiederaufbau nach historischer Vorlage im alten „Babylon Berlin“-Stil, zugleich soll aus dem reinen Warenhaus dann ein Multifunktionsort aus Einkaufen, Gastronomie, Co-Working und Freizeit werden, auch eine Bibliothek ist geplant. Was nicht unattraktiv klingt, sorgt derzeit für Unmut bei vielen Anwohner*innen: Eine weitere Steigerung der Mietpreise durch Aufwertung des Quartiers wird ebenso befürchtet wie Verdrängung bestehender Gewerbe rings um das Gebäude, vom jahrelangen Baustellenchaos am hochfrequentierten Verkehrskreuz ganz zu schweigen.

Dieses Beispiel zeigt: An solche Entwicklungen schließen sich viele Fragen der Stadtplanung und -entwicklung an: Inwiefern können solche Räume tatsächlich öffentliche Funktionen übernehmen, wie exklusiv – und inklusiv – sind sie? Trägt all das zu einer „Disneyfizierung der Städte“ (Frank Roost) bei oder werden neue Orte der zwischenmenschlichen Begegnung für alle Menschen geschaffen? Stichwort für alle Menschen – da sind wir schon beim nächsten Thema.

4. Diversity

„We strive to promote greater understanding of privilege based on race, nationality, ethnicity, sexual and gender identity, age, physical ability, religious affiliation and financial status.“
Manifest der Berliner Clubcommission

Einerseits ist Gastronomie eine „von Haus aus“ vielfältige Branche. Dies aufgrund ihrer vielen Küchenrichtungen und Konzepte, aufgrund der Tatsache, dass sie sehr international ist und Menschen aus der ganzen Welt in den hiesigen gastronomischen Betrieben tätig sind. Schließlich gilt die Branche doch als besonders niederschwellig, was den Zugang betrifft. Schneller findet man als Fremdsprachler*in kaum einen Job als in einem Café, einer Bar oder in einem Restaurant. Der allgegenwärtige Mangel an Personal begünstigt dies noch einmal – neuerdings werden ja sogar bilaterale Verträge abgeschlossen. Das alles macht die Sache aber nicht einfacher. Sprachliche und vermeintliche kulturelle Barrieren sorgen für Missverständnisse und Irritationen, es kann bis hin zur Ausbeutung gehen, wenn z.B. internationale Mitarbeiter*innen nicht über Rechte aufgeklärt werden.

Latente und manifeste Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, gegen die sich u.a. Gastronomie gegen Rassismus stark macht, sind ein Problem. Diversity kann ein hilfreiches – und in anderen Branchen bereits erprobtes – Konzept und Werkzeug sein, um sich der wachsenden Herausforderung anzunehmen. Es geht darum, die Existenz der Vielfalt anzuerkennen und ihre Vorteile und Chancen zu fördern, man nennt es auch „Diversity Management“. Als Teil des Personalwesens wird dieses in vielen Branchen, zumal in international arbeitenden Unternehmen, gelebt – und zunehmend auch in einer zwar meist lokal operierenden, aber sowohl vor als auch hinter dem Tresen internationaler werdenden Gastronomie.

Auch geht es darum, Frauen – grob 50 Prozent der Menschheit – die Repräsentation zu geben, die selbstverständlich sein sollte, es aber nicht ist. Das amerikanische Projekt Equity at the Table (EATT) etwa baut eine Datenbank von Frauen mit Migrationsgeschichte in der Food-Branche auf – unter anderem, um etwas gegen die berüchtigten rein männlichen Panels auf Messen, Foodsymposien oder Genussfestivals zu tun: Das Argument, es gebe ja nur so wenige Frauen in der Branche, zieht dann nicht mehr so. Die Initiative La Cocina aus San Francisco will Food-Entrepreneur*innen mit geringem Einkommen und oft mit Migrationshintergrund helfen, Fuß in der Selbstständigkeit zu fassen.

Die bekannte Londoner Bartenderin Monica Berg hat einen digitalen „safe space“ geschaffen, in dem Beschäftigte der Gastronomie und Hotellerie anonym melden können, wenn es zu Diskriminierungen am Arbeitsplatz kommt. Erste Beispiele aus Deutschland: In Hamburg gibt es jetzt eine Bookingagentur, die mit weiblichen und queeren Acts mehr Vielfalt hinter die Mischpulte bringt.  In Berlin setzt sich der Arbeitskreis Awareness & Diversity der „Clubcommission“ dafür ein, dass „möglichst sichere und vielfältige Umgebungen in der Club- und Festivalkultur geschaffen werden können“.

Im oben bereits erwähnten „Werksviertel“ hat mit der Kunstwerkküche ein Gastro-Unternehmen mit Catering und Kochschule eröffnet, das Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Und wie mit moderner Technik auch Menschen mit kognitiven Schwächen in der Branche tätig werden können, zeigt Nudel Emma aus Überlingen – Hilfestellung geben Lichter über den Schalen, die den Mitarbeiter*innen anzeigen, welche Zutat bei der Zubereitung als nächstes dran ist:

Wie lässt sich Diversity in der Gastronomie nachhaltig verankern? Hier kann sich die Branche wie so oft bei anderen Branchen etwas abgucken – Ratgeber und Leitfäden gibt es zuhauf – und natürlich professionelle Beratung in Anspruch nehmen. Für Gastro-Unternehmen, die sich vor dem Hintergrund zunehmenden Wettbewerbs um Mitarbeiter*innen modern aufstellen müssen, wird Vielfaltsmanagement zu einer Pflichtaufgabe, denn es macht die Betriebe nach innen und außen attraktiver. Der Dienstplananbieter Gastromatic hat schon mal ausgearbeitet, wie eine „diverse“ Stellenanzeige aussehen kann.

Dass sich der Asterisk * mitsamt anderen Darstellungsformen in immer mehr Medien durchsetzt und eine gendergerechtere Sprache zeitigt, auch bei uns im Blog (etwaige Versäumnisse bitten wir zu entschuldigen) – auch ein Schritt in diese Richtung.

5. No Cash Only?

Die zunehmende Digitalisierung im Handel und in der Gastronomie bringt auch eine zunehmende digitale Zahlungsweise mit sich. Bekanntermaßen gibt es Länder, in denen mittlerweile fast ausschließlich mit Karte oder gar mit dem Smartphone bezahlt wird, und auch im Bargeldland Deutschland steigt die Akzeptanz. Laut der aktuellen Studie eat.pay.love ist sie betreiber*innenseitig in der deutschen Gastronomie seit der Erstbefragung 2017 um fast 12 Prozent gestiegen – 84,6 Prozent der befragten Gastrobetriebe bieten bargeldloses Bezahlen an, beim ersten Mal waren es noch 72,3 Prozent. Fast 90 Prozent der 18- bis 29-Jährigen wünschen sich bargeldlose Zahlmöglichkeiten.

Immer mehr Betriebe stellen aktuell gar auf „no cash only“ um und haben das Bargeld für sich faktisch abgeschafft. Nur ein paar Beispiele, die stellvertretend für viele stehen: Kein Bargeld mehr akzeptiert die Hamburger Pizzeria Heat ebenso wie die Hotelkette Prizeotel oder das neu gestaltete Restaurant der Messe Hannover. Es geht quer durch alle Betriebstypen. Die Gastrobetriebe vom Imbiss bis zum Club, die das Software-Unternehmen Tobi an seinem Sitz im westfälischen Ahaus betreibt – komplett bargeldfrei. Hier wird per Smartphone bestellt und bezahlt. Ebenso haben die Berliner Cafés „Ben Rahim“ und auch die Kette „The Barn“ Scheine und Geldstücke verbannt. Als Letztere dies tat, veröffentlichten wir dazu einen Post, der viele Pro- und Contra-Kommentare erhielt. Was nur zeigt: Am Thema Bargeld – ja oder nein scheiden sich aktuell die Geister.

Für die Gastronomie hat „no cash“ durchaus einige Vorteile: Weniger Abrechnungsaufwand am Abend, kein Wegbringen des Gelds zur Bank und kein Wechselgeldbesorgen beispielsweise. Hinzu kommt, dass weniger Gefahr von Fehlabrechnungen, Diebstahl oder gar Betrug besteht – das dürfte doch ganz im Sinne der mehrheitlich ehrlich wirtschaftenden Betriebe sein. Bei Bargeldlastigkeit kommt es immer wieder zu „Unstimmigkeiten“, vorsichtig formuliert. Deutlicher: Allein die Berliner Finanzämter erzielten durch Kassennachschau und daraus resultierende Betriebsprüfungen seit 2018 sage und schreibe 50,4 Millionen Euro Mehreinnahmen allein im Bereich der Gastronomie.

Hinzu kommt ein Phänomen, das die Psychologie als Zahlungsschmerz bezeichnet: So wirkt sich nicht nur die Höhe des zu zahlenden Betrags darauf aus, wie sehr der Konsument den Zahlungsvorgang als unangenehm oder gar wehtuend empfindet, sondern auch dessen Durchführungsart. Bar zu zahlen, tut demzufolge mehr weh und umgekehrt: Kartenzahlung oder eine andere Form digitalen Bezahlens ist angenehmer. Und man will es den Gästen ja so angenehm wie möglich machen, nicht wahr?

Doch – Stichwort Bequemlichkeit – ist „no cash only“ tatsächlich der Trend, in den es in Zukunft in der Gastronomie gehen wird? Oder ist eine Mehrgleisigkeit – fachsprachlich Omnichannel – inklusive Bargeld für verschiedene Gästebedürfnisse und Wünsche doch besser? Bargeld ist anonym und diskret. Es hinterlässt keine digitalen Spuren und soll gastronomische Situationen geben, in denen genau das gästeseitig gewünscht ist. Und nicht jeder Gast hat eine Karte, mancher hat auch kein Konto. In den USA sind das immerhin 20 Millionen Menschen.

Und so gibt es in den USA, wo die Bargeldquote schon viel niedriger ist als hierzulanden, tatsächlich einen Trend zum Gegentrend: So ist die US-Kette Sweetgreens wieder zu „not cashless“ zurückgerudert, weil diese Bezahlungsform bestimmte Gruppen von Gästen diskriminiert. Die Stadt Philadelphia, wo das Unternehmen allein sechs Filialen hat, hat sogar explizit angeordnet, dass die Geschäfte Bargeld wieder akzeptieren müssen. Andere US-Städte folgten dem Beispiel.

Natürlich liegt es in der Entscheidung jedes Betriebs selbst, welche Bezahlformen er akzeptiert. Und es gibt sicher Betriebstypen, in denen „no cash“ absolut sinnvoll ist. Es sollte nur auch vom Gast her gedacht werden. Wie immer.

Was ist aus den Trends der Vorjahre geworden? Eine Auswahl

Generation Z (2019): Wir verneigen uns vor einer Generation, über die wir Anfang 2019 schrieben, sie wolle vor allem Struktur, Sicherheit, Wohlfühlen. Wir Cretins. Diese Generation geht für ihre und unsere Zukunft auf die Straße. Eine Vertreterin dieser Generation wurde vom Time Magazine zur Person des Jahres 2019 gewählt. Sascha Lobos kluges Buch Realitätsschock schließt mit dem Kapitel „Hoffnung“, und diese Hoffnung speist der Autor aus genau dieser Jugend. Weil sie nicht „weltfremd“ ist, sondern mit Fakten, Wissen, Höflichkeit und Hartnäckigkeit für ihre Ziele einsteht – in einer guten Welt leben zu können.

No Shows (2019): Großes Thema 2019, viele Beiträge sind dazu erschienen, und viele Gastronom*innen haben für ihre Betriebe Lösungen entwickelt – zum Beispiel die Vorbelastung der Kreditkarte und/oder Aufklärungsarbeit wie in Frankfurt.

Foodworking Spaces (2019): Das seinerzeit angekündigte Kitchentown hat soeben eröffnet, weitere Projekte in diese Richtung sind uns aktuell nicht bekannt.

Alkoholfreie Getränke/Spirituosen (2018): Boomen ja geradezu, auf dem Bar Convent Berlin 2019 war es das Thema. Die Qualität im Gesamten wird mit der Zunahme an Produkten sicher steigen, und wenn eine Brauerei eine Alkoholfrei-Bar eröffnet, es Events wie ein Mindful-Drinking-Festival oder Sober-Partys gibt, vor allem aber immer mehr Restaurants auf alkoholfreie Begleitung ihrer Speisen parallel zum Wein setzen (und das ist unsere Beobachtung), dann sollte man das Thema im Auge behalten.

Gemüseküche (2018): Läuft.

New Work (2018): Der Begriff ist in der Branche angekommen. Ein schönes Projekt ist #hierwillicharbeiten – hier werden viele Positivbeispiele aus der Praxis vorgestellt.

Gastrotrends live: Wir stellen diese und andere Trend- und Branchenthemen auch in Form von Fachvorträgen, Präsentationen und Diskussionsrunden vor. Mehr dazu hier

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6 Kommentare

Hendrik 26. Oktober 2020 - 20:28

Vielen Dank für die Auflistung der neuen Gastro-Trends in 2020. Auch ich suche imemr nach neuen Inspirationen zu diesem Thema. Wir wollen eventuell die Bekleidung/ Uniform komplett neu anschaffen.

Antwort
Helena 15. Juni 2020 - 12:32

Ich finde vorteilhaft für Gastronomie das Wort „Diversity“, was man heute in zahlreichen Restaurants sehen kann. Vor allem liegt es in dem Fall am Auswahl der Gerichten, aber auch an internationalen Mitarbeitern. Danke für den Beitrag mit den Trends der Restaurants!

Antwort
Noah Dadrich 24. April 2020 - 13:51

Sehr interessant zu sehen was die Trends in der Gastronomie jetzt sind. Ich bin selber auf der Suche nach Gastronomiekonzepte für ein neues Projekt. Zum Glück hilft auch mein Innenarchitekt dabei. Überhaupt kein Bargeld mehr zu akzeptieren käme für mich nicht in Frage als Gastronom. Danke für den Beitrag!

Antwort
Florian 23. April 2020 - 10:36

Interessant, dass es eine App gibt, mit der man den CO2-Fußabdruck von Speisen berechnen kann. Ich werde definitiv damit probieren! Ich werde bald mein eigenes Restaurant öffnen und lese gerne zum Thema, um die aktuellen Trends im Bereich Gastronomie zu erfahren. Man soll immer auf dem Laufenden bleiben! Danke für den Beitrag!

Antwort
Florian 23. April 2020 - 10:36

Interessant, dass es eine App gibt, mit der man den CO2-Fußabdruck von Speisen berechnen kann. Ich werde definitiv damit probieren! Ich werde bald mein eigenes Restaurant öffnen und lese gerne zum Thema, um die aktuellen Trends im Bereich Gastronomie zu erfahren. Man soll immer auf dem Laufenden bleiben! Danke für den Beitrag!

Antwort
Dominik Pusch 24. Januar 2020 - 16:12

Hallo Ihr Lieben :),

mal wieder ein sehr toller Beitrag von euch. Wir haben auch ein Magazin extra für Gastronomen, dies ist komplett kostenlos, wir würden uns sehr freuen, wenn wir auch hier einen Mehrwert bieten dürften.

https://agenturalacarte.de/gastro-beratung/

Liebes Nomyblog-team, Wir wünschen euch ein tolles und erfolgreiches neues Jahr und viel Erfolg weiterhin!

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